Eventname: Harsh Vocal Camp 2024
Moderation: Britta Görtz
Dozenten & Panelgäste: Ana Seva, Britta Görtz, Daniil Rauchwagner, Hrafn Zimmermann, Nadja Rauchwagner, Nils Wittrock, Nino Helfrich, Robert Mühlbauer, Sabine Dittrich, Suzen Berlin, Tinatin Tsereteli, Toni Linke, Univ.-Prof. Dr. Florian Heesch, Wolfgang Saus
Bands: For I Am King, Rise Of Kronos, Torturized, Human Abyss
Ort: Rampe – Coworking für Musiker:innen und Mephisto, Hannover
Datum: 04. – 06.10.2024
Kosten: 299,00 € VK – ausverkauft
Besucher: 60 Besucher
Veranstalter: Britta Görtz
Link: https://harsh-vocal-camp.de/
Es gibt nur wenige Events im Jahr, auf die ich mich so sehr freue wie auf das, über das wir heute in unserem Leitartikel berichten. Normalerweise sprechen wir über Konzerte, Festivals, Messen und ähnliche Veranstaltungen. Doch heute geht es um ein Event, das den Fokus auf Sängerinnen und Sänger der härteren Musikrichtungen legt – das erste Harsh Vocal Camp von Britta Görtz.
Britta kenne ich schon seit mehreren Jahren. Während der Corona-Zeit hat sie mit ihrem Gesangsunterricht dafür gesorgt, dass nicht nur ich, sondern auch meine gesamte Nachbarschaft mitbekommen haben, wie Gesang klingen kann, wenn es sich anhört, als wäre ein wildes Tier im Arbeitszimmer eingesperrt und kurz davor, die Tür zu durchbrechen.
Nachdem Britta letztes Jahr bei unserem Time For Metal-Seminar zu Gast war, zeichnete sich bereits ab, dass dieses Event heute hier in der Rampe in Hannover stattfinden würde.
Nun ist es so weit. Nach einer „nur“ 3,5-stündigen Autofahrt finde ich direkt vor der Tür noch einen Parkplatz – ein Glücksfall! Besonders cool ist, dass sich vor dem Eingang bereits eine Menschentraube versammelt hat, fast wie bei einem Metal Konzert. Und das passt ja irgendwie auch. Als sich die Türen öffnen und die 60 Gäste die Rampe betreten, fällt mir auf, wie vielfältig das Publikum ist. Ich hätte ehrlich gesagt mit mehr Menschen in dunklen Metal-Shirts oder Kutten gerechnet, aber das Bild ist gemischt: Ungefähr die Hälfte sieht aus wie typische Metalheads und Punks, während die anderen eher unscheinbare Harsh-Vocal-Enthusiasten sind, denen man die Verbindung zur Musikrichtung nicht ansieht. Doch das ist eigentlich passend, denn Harsh Vocals haben nicht zwingend nur etwas mit Metal zu tun, wie auch gleich in der ersten Keynote von Britta Görtz deutlich wird – dazu aber später mehr. Ebenfalls sind Metalheads ja auch nicht zwingend immer direkt sichtbar, wo ich ja ebenfalls ein sehr gutes Beispiel bin.
Es ist schön zu sehen, dass Britta gut gelaunt, wenn auch etwas nervös wirkt, als wir unsere Plätze suchen. Vielleicht ist sie sogar leicht hibbelig. Doch sobald sie das Mikrofon in die Hand nimmt, schaltet sie in den Profi-Modus um. Jegliche Unsicherheit verschwindet und es wird sofort klar, dass sie bestens vorbereitet ist und nicht zum ersten Mal auf einer Bühne steht. Natürlich ist es etwas anderes, ob man singend vor einem Publikum steht, das sich zur Musik bewegt, oder ob man vor einem sitzenden Publikum spricht, bei dem alle Augen auf einen gerichtet sind. Dennoch wird schnell klar, dass das Harsh Vocal Camp kein laienhaftes Treffen ist, sondern die Erwartungen an ein professionelles Level voll erfüllt werden.
Inhaltlich bewegt sich die erste Keynote in der Einordnung des Gesangs und bringt den Gesang mit Punkten wie Ästhetik zusammen. Auch die Entstehung der Harsh Vocals wird mit aufgenommen. Über das Audiospektrogram bringt Britta die gesungenen Beispiele in Bilder auf das im Raum befindliche Display. Abschließend wird klarer Gesang mit der Geräuschstimme gegenübergestellt. Als Intro hilft die kurzweilige Keynote dafür, das Mindset der Gäste auf das Motto der Veranstaltung einzustimmen „Viel Geschrei und Nerderei“.
Weiter geht es in der Paneldiskussion zum Thema „Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Gesangsstrategien verschiedener Genres.“ Besonders faszinierend ist die Frage: „Warum polarisieren Harsh Vocals, und warum faszinieren sie euch?“ Diese Frage beschäftigt das hochkarätig besetzte Panel, das aus renommierten Musikerinnen, Musikern und Fachleuten besteht.
Die Panelbesetzung sieht wie folgt aus:
- Britta Görtz: Metal-Vokalistin und Moderatorin, spezialisiert auf Harsh Vocals
- Tinatin Tsereteli: Jazz/Rock/Pop-Sängerin und Gesangsdozentin
- Nils Wittrock: Sänger und Gitarrist der Band The Hirsch Effekt
- Hrafn Zimmermann: Sänger von Interitvs, fasziniert von Harsh Vocals
- Florian Heesch: Musikwissenschaftler an der Universität Siegen
- Ana Seva: Opern- und Metal-Sängerin, spezialisiert auf Black und Doom Metal
Bei der Paneldiskussion geht es vor allem um die persönlichen Erfahrungen der anwesenden Sängerinnen, Sänger und Fachleute. Ein besonders faszinierender Punkt ist, dass im Bereich der Harsh Vocals keine feste Genderzuteilung existiert. Es wird deutlich, dass authentischer Harsh-Gesang nicht im Widerspruch dazu steht, Gesangsunterricht zu nehmen. Im Gegenteil: Eine fundierte Ausbildung kann die stimmlichen Möglichkeiten/Sicherheiten eines Sängers oder einer Sängerin erweitern.
Ein weiteres interessantes Thema ist die Unterscheidung zwischen „hoher Kunst“ und „Unterhaltungsmusik“ in Europa. Hier wird oft der „Fehler“ gemacht, Metal, und damit auch Harsh Vocals, nicht als Kunstform anzuerkennen, obwohl sie durchaus in diese Kategorie gehören. Besonders spannend ist der Beitrag des jüngsten Teilnehmers des Panels, Hrafn Zimmermann. Er spricht sehr treffend über die Herausforderung, Metalgesang in die westlichen Hörgewohnheiten zu integrieren, und beschreibt dabei die Barrieren, die viele Menschen bei dieser Musikrichtung empfinden.
Die Wahl der Panelteilnehmer erweist sich als äußerst passend. Beim Thema Crossover sind sich die Diskussionsteilnehmer einig: Es gibt sowohl gelungene als auch weniger überzeugende Crossover-Projekte. Die besten entstehen dann, wenn alle Beteiligten sowohl Harsh Vocals als auch klare Gesangstechniken verstehen und ein gemeinsames Verständnis darüber haben, was kombiniert werden soll. Besonders in Bezug auf weibliche Vorbilder im Metalgesang entwickelt sich eine interessante Diskussion.
Als schließlich das Publikum in die Diskussion einbezogen wird, nimmt das Gespräch eine neue Dynamik an. Es werden auch unerwartete Themen angesprochen, wie die positive Wirkung von Musik auf Demenzkranke und die Frage, ob Harsh Vocals in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Rolle spielen könnten. Die Vielfalt der angesprochenen Themen und die unterschiedlichen Perspektiven machen diese Diskussionsrunde zu einem bereichernden Teil des Events.
Nach einer kurzen Pause erläutert Britta Görtz in ihrem folgenden Vortrag anschaulich die Anatomie und Funktion der Taschenfalten („False Cords“) im Gesang und Geschrei. Mithilfe von Bildern erklärt sie die Positionen der Luftröhre, der Taschenfalten, der Stimmbänder, des Kehldeckels und der Stimmlippen. Dabei wird deutlich, dass die Taschenfalten nicht muskulär bewegt werden können. Sie sind das anatomische „Organ“, das für die False Cords-Technik im Gesang verantwortlich ist.
In verschiedenen Gesangsrichtungen und Genres spielen die Taschenfalten eine wichtige Rolle. Sie dienen zur Verstärkung der Resonanz, etwa im Belting, in der klassischen Musik, im Kehlgesang, im Metal und sogar im Beatboxing. In manchen Fällen, wie beim Kehlgesang, Metal oder Beatboxing, tragen die Taschenfalten zusätzlich zur Tonerzeugung bei, was diesen Stilen ihre charakteristische Klangfarbe verleiht.
Die Taschenfalten sind zudem entscheidend für die Klanggebung und -färbung. Britta Görtz zeigt anhand von Beispielvideos, die Laryngoskopie (Spiegelungen des Kehlkopfes) verwenden, wie der anatomische Prozess des Gesangs abläuft und welche Strukturen für die Erzeugung bestimmter Töne notwendig sind.
Besonders im Metal wird die Falsecords-Technik häufig angewendet. Sie ermöglicht den charakteristischen rauen und kraftvollen Gesang, der in diesem Genre weit verbreitet ist und oft als Ausdruck von Intensität und Emotion dient.
Den Abschluss des ersten Tages bildet ein gemütliches Treffen in einer von Britta Görtz Lieblingskneipen – dem Kuriosum. Dort erwartet uns ein einfaches, aber reichhaltiges Buffet im Brotzeit-Stil. Zwar ist es schlicht, doch vollkommen ausreichend – schließlich sind wir auf dem ersten Harsh Vocal Camp und nicht auf einem Street Food Festival. Besonders schön ist, dass die Teilnehmenden hier direkt ins Gespräch kommen und beginnen, sich zu vernetzen. Wir unterhalten uns am Tisch mit einer Vocaltrainerin und Sängerin aus Österreich, einer Sängerin aus Schwerin, die in einer Metalband singt, sowie einer weiteren Sängerin aus dem Symphonic Metal. Die Vielfalt der Gruppe empfinde ich als sehr bereichernd, und der Abend klingt für einige sogar bis in die frühen Morgenstunden aus. Ein gelungener Abschluss, wie er sein soll.
Harsh Vocal Camp 2024 – by Britta Görtz – Samstag, der 5. Oktober 2024