The Pretty Reckless – Who You Selling For

“Musikalischer und lyrischer Reifeprozess“

Artist: The Pretty Reckless

Herkunft: New York City, New York, US

Album: Who You Selling For

Spiellänge: 51:48 Minuten

Genre: Hard Rock, Grunge, Alternative

Release: 21.10.2016

Label: Universal Music / Razor & Tie

Link: http://www.theprettyreckless.com

Produktion: Water Music Recording Studios, Hoboken, New Jersey, US von Kato Khandwala

Bandmitglieder:

Gesang, Gitarre – Taylor Momsen
Gitarre – Ben Phillips
Bass – Mark Damon
Schlagzeug – Jamie Perkins

Tracklist:

1. The Walls Are Closing In / Hangman
2. Oh My God
3. Take Me Down
4. Prisoner
5. Wild City
6. Back To The River
7. Who You Selling For
8. Bedroom Window‘
9. Living In The Storm
10. Already Dead
11. The Devil’s Back
12. Mad Love

The Pretty Reckless, angeführt von der hochtalentierten Frontfrau Taylor Momsen, wagen mit ihrem dritten Fulllength Who You Selling For einen Schritt, der sie etwas von ihrem bisherigen Weg abbringt. Der Sound der Band stand bisher für rohen Rock ’n’ Roll, der zu Hauf mit Hard Rock-Elementen gespickt wurde. Lyrisch waren die Stücke ganz offensichtlich von Momsen geprägt und handelt von Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll. Das Image der Band lebte von Provokation – laszive Outfits, obszöne Texte und ein Auftreten voller Gleichgültigkeit. Die neue Platte klingt zwar noch immer nach The Pretty Reckless, was vor Allem der einzigartigen Stimme der Sängerin zu verdanken ist, zu den Rock ’n’ Roll- Elementen gesellen sich allerdings progressive und bluesige Bestandteile, auf die ganz harten Parts wurde fast gänzlich verzichtet. Der Sound orientiert sich in Richtung 70er und ist  bedeutend ruhiger, dafür besitzt das Album aus Songwriter-Sicht wesentlich mehr Tiefe.

Die simplen, drei- bis vierminütigen, modernen Rock-Tracks sind ausgefeilteren Kompositionen gewichen, Songs wie der Opener The Walls Are Closing In / Hangman oder The Devils Back haben eine Länge jenseits der sechs Minutenmarke und sind vielschichtiger und experimenteller als die älteren Werke der Band. Ausschweifende instrumentale Parts ziehen sich wie ein roter Faden durch das Album und vor Allem die Gitarre genießt Narrenfreiheit, die Gitarrist Ben Phillips mit virtuosen Passagen zu nutzen weiß. Dabei gelingt es ihm, dass Soli und instrumentale Elemente zu jedem Zeitpunkt im Dienste des Songs stehen. Zusätzlich dazu hat sich die Band einige Gastmusiker eingeladen. Unter anderen verleihen Klavier, Orgel und Chorgesang dem Sound der Band eine neue Dimension. Neben dieser Experimentierfreudigkeit finden sich auf Who You Selling For auch ruhigere Stücke wie der Title Track Who You Selling For, das Akustikstück Bedroom Window oder The Devils Back. The Pretty Reckless haben sich zwar schon immer darauf verstanden ruhige Parts an den richtigen Stellen einzubauen, allerdings nicht mit einer so hohen Frequenz wie auf dieser Platte. Drei Songs entfernen sich noch ein Stück weiter vom ursprünglichen Klang der Band: das country-lastige Back To The River, die Blues-Ballade Already Dead bei der Taylor Momsen ihr ganzes stimmliches Spektrum offenbart und mit Mad Love ein Song, der selbst dem experimentierfreudigsten Fan völlig Fehl am Platz vorkommen dürfte. Pop und R’n’B sind zwei Stichworte, die für sich sprechen. Trotz dieser langen Liste an Experimenten finden sich mit Oh My God, Take Me Down, Prisoner und Living In The Storm auch Song mit dem typischen The Pretty Reckless Sound – zugänglicher Rock ohne Umwege. Allen voran die Singleauskopplungen Oh My God und Take Me Down wissen dabei auf ganzer Linie zu überzeugen und haben mit Living In The Storm, der wie prädestiniert für ein drittes Musikvideo zum Album scheint, einen dritten Kompagnon. Die zweite Single Oh My God ist unangefochten der stärkste Song des Albums.

Die erste Single Take Me Down schraubt Tempo und Rohheit zwar einen Gang zurück, doch auch sie sei auf Grund einer unverkennbaren Anleihe bei den Rolling Stones explizit genannt.

Fans der ersten Alben müssen sich jedoch auch hier mit einer Veränderung vorlieb nehmen: lyrisch hat sich die Band ebenfalls weiterentwickelt. Ob Momsen älter und reifer wird oder der Rest der Band ein größeres Mitspracherecht hat als zuvor, sei einmal dahin gestellt, allerdings weichen die anzüglichen und provokanten Texte vornehmlich einem Thema: Selbstfindung. Das ganze natürlich im Bezug auf die Musik, die teils als Lösung und teils als Ursache für die Verwirrungen des lyrischen Ichs gesehen wird. Die Texte sind tiefgründig, aber die Gänsehaut und der Nervenkitzel von Songs wie Follow Me Down oder Factory Girl werden schmerzlich vermisst. Einzig die düstere und verzweifelte Grundstimmung der ersten beiden Platten bleibt auf Who You Selling For erhalten – allzu viele positive Gedanken scheint Momsen nicht verarbeiten zu müssen.

Neben allen vergleichen sei noch ganz objektiv hervorzuheben wie gelungen die Produktion des Albums ist.

„Die ganzen Songs basieren schlichtweg auf dem, wie’s live eingespielt wurde – und nichts wurde danach ausgebessert.“ (Gitarrist Ben Phillips)

Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage dürfte sich zwar in Grenzen halten, allerdings ist der Live-Charakter der Stücke auf der Platte deutlich zu hören. Jedes Instrument hat seine Momente und die Aufnahmen wirken sehr dynamisch. Vor Allem der Gesang profitiert hiervon: die Live-Aufnahme sorgt für Intimität und Verwundbarkeit, die Taylor Momsen vor Allem bei den ruhigeren und dynamischeren Stücken (Paradebeispiel: Already Dead) ausnutzt und den Hörer mit den verschiedenen Facetten ihrer Stimme umgarnt – die Frau weiß ihre Waffen nicht nur optisch einzusetzen.

Fazit: Who You Selling For ist für sich genommen ein gelungenes Album, das vor allem Musik-Enthusiasten große Freude bereiten wird. Freunden der ersten Alben und der härteren Songs der Band ist sicherlich ein bisschen zuviel der rohen Energie abhanden gekommen, dafür ist die Musik aber vielschichtiger und man kann der Platte einiges abgewinnen, wenn man sich intensiv mit ihr befasst.

Anspieltipps: Oh My God, Take Me Down, Living In The Storm, Back To The River, Already Dead
Carsten B.
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