Nyos – Growl

Math Rock minus Algebra

Artist: Nyos

Herkunft: Jyväskylä, Finnland

Album: Growl

Spiellänge: 46:53 Minuten

Genre: Math Rock, Post Rock, Noise Rock, Instrumental Rock

Release: 10.10.2025

Label: Pelagic Records

Link: Nyos auf Bandcamp und Nyos auf Instagram

Bandmitglieder:

Gitarre – Tom Brooke
Schlagzeug – Tuomas Kainulainen

Tracklist:

  1. Get Ready
  2. Superstar
  3. Lézard Rouge
  4. Harder Than Rain
  5. Pepe-Pepe
  6. Lo4
  7. Walking In Moonlight
  8. Be Free
  9. Alright, Goodnight
Nyos – Growl (2025) | Foto: Sarah Bernhard

Treffen sich ein Drummer und ein Gitarrist in Finnland … Zwar lässt sich die Pointe leicht erraten und doch hat sie meist Erfolg: Aus dem hohen Norden kommen einfach verdammt gute Bands! Seit über zehn Jahren zählen Nyos dazu – vom Mainstream sträflich unbemerkt, aber von Fanzines und anderen Kennern unter den Musikmagazinen immer wieder präsentiert wie auf einem feinen Hors-d’œuvre-Tablett.
So speziell ihr instrumentaler Post/Math Rock mit seiner atmosphärischen Dichte an Loops und schwindelerregenden Drumnotationen klingt, so unprätentiös ist er in seiner Natur: Tom Brooke und Tuomas Kainulainen erspielen sich ihre Alben in Jam-Sessions und füllen sie unter dem Anspruch von nichts als größtmöglicher, instinktgeführter Freiheit mit purer Schaffensfreude.
Mit dieser Herangehensweise schafft es das Duo auch nach einem gemeinsamen Jahrzehnt im Studio und auf langen Europa-Tourneen (u.a. mit Zeal & Ardor), dass ihr einzigartiger Signatursound mit jedem Release aufs Neue frisch, verblüffend und zugänglich ist.

Auch das neue Album Growl bringt die Ohren wieder zum Vibrieren!

Bonbon mit Brausefüllung

Get Ready ist keine Warnung, sondern eine Einladung. Die ist nach fünf Sekunden angenommen, als mich der Aufprall von mandolinenhaft dudelnder Gitarre und wilden Drums zum Lachen bringt. Die Gitarre schafft sich in Überlagerungen von Loops ihre eigenen Kontraste und Ergänzungen, und mit jeder neuen Schicht tritt man tiefer hinein in den Track. Darin kann man es sich eine Weile gemütlich machen und kleine Melodien und dieses wahnsinnige Drumspiel um sich herumschwirren lassen. Nicht zu lange jedoch. Sachte senkt der neckische Track die Akkorde ab und macht dunkleren Tönen Platz, die mehr einem zentnerschweren Konzertflügel ähneln als irgendetwas anderem. Das zum Zerreißen gespannte Seil wird vom Duo weitergeflochten, und egal, wohin wir darauf tanzen werden – ich bin ready. Die Tatsache, dass die Entladung in pulsierenden Noise zum ersten Mal einen Rhythmus bietet, zu dem man sich wirklich gleichmäßig bewegen kann (was mir erst jetzt auffällt!), macht die letzten Momente mit Drum-Finale zu einem kathartischen Bonbon mit Brausefüllung!

Viel direkter fordert Superstar im EDM-Kostüm zum Samba auf. Die Drums und Percussions kommen im Spotlight besonders tight, die Gitarre geht richtig schnell ins Ohr. Der Titel wippt so organisch voran, wie er laut Brooke während einer einzigen gemeinsamen Jamsession zustande kam. Mal wieder frage ich mich, wann die Label-Kollegen von And So I Watch You From Afar die beiden Finnen mal mit auf Tour nehmen! Per Beckenschlag öffnet sich der Track und schwillt auf lauter und lauter rumorendem Untergrund und mit großen Drum-Akzenten zu einer befreienden Soundgewalt an, in der sich die Gitarre unbeirrt weiter in Ekstase tanzt.

Experimenteller ist dagegen das jazzig anmutende Kunstwerk Lézard Rouge. Über unaufgeregt zackigen Drums spielt auf allen Gitarrenspuren ein eigener Zauber. Man kann sich aussuchen, wo man hinhören möchte, ohne dabei mit der Wahl auch nur ansatzweise überfordert zu sein – der Track ist rund wie ein guter Rotwein an einem gemütlichen Spätsommerabend! Die sieben Minuten sind erstaunlich kurzweilig, auch weil die Spannungsmomente immer genau richtig lange gehalten werden, Übergänge und Ablösungen logisch und interessant sind und auf der simplen Grundmelodie alles angenehm dahinfließt.
Wenn wir kurzzeitig durch eine glockenhelle Klanglandschaft schippern, schlägt meine Gänsehaut eine kleine La-Ola-Welle – so stetig und feinfühlig steigert sich die Intensität, dass meine Erwartungen anderthalb Minuten lang gehalten werden und keinesfalls enttäuscht sind, als der Track sich auf seinen Ursprung besinnt, ich in der Umarmung warmer Saitenklänge liege, und Snare und Becken wie Schmetterlinge um meine Ohren flattern. Ich mag es immer sehr gerne, wenn Songs mich am Ende sozusagen nach Hause bringen.

Meister schwieriger Kunst

Harder Than Rain lässt in heiterem Groove zuerst wundervolle Harmonien auf uns herabregnen. Dann zeigen Nyos wieder, wie großartig sie die schwierige Kunst des „Haltens“ meistern: mit läutenden Gitarrennoten, einem Puls, angeschlagen wie eine Orgel, und einer beharrlichen Snare, deren Galopp man sich nur schwer verweigern kann. Im Verharren im Tempo entrückt uns der Track in unser eigenes Innenleben, von wo wir mit amüsanten kleinen Riffs wieder abgeholt werden, nur um uns hineinzuwerfen in dichten Noise Rock, der mächtig Bock macht.
Hier haben wir auch wieder einen dieser Titel, an denen man die flüssige Kommunikation zwischen Brooke und Kainulainen direkt spüren kann; die bedarf nicht mehr als Brookes „Yeah“ am Ende der Aufnahme. Wenn das liveerfahrene Duo die Spontaneität seiner Schaffensenergie mit auf ein Album packt, sind das nie einfach nur ganz nette Bonustracks – Impros wie First Take und Cloudberry von ihrem 2022er Celebration gehören zu meinen persönlichen ewigen Favoriten in ihrem Songkatalog!

Nyos – Growl (2025)

In Sachen unorthodoxer Polyrhythmen treiben es Nyos mit Pepe-Pepe auf die Spitze und haben keine Angst, gewaltig übers Ziel hinauszuschießen. Damit das mit Eleganz passiert, braucht es genau diese handwerklichen Fähigkeiten und jene seltene Art gesunden Selbstbewusstseins im Musikschaffen, die das Duo über Jahre kultiviert hat.
Eine Zeitlang verdrehen sie einem den Kopf, weil man nicht weiß, auf welches Riff, welchen Fill und welches Alarmsignal man zuerst und als nächstes hören soll, bis sukzessive alle Spuren auf einen Pfad führen, auf dem es sich unbeschwert mitsummend entlanghüpfen lässt. Nyos dirigieren uns absichtsvoll aus der Verwirrung hinein in harmonische Klarheit – die Tonfolge, die anfangs eher ein gelooptes Tröten war, ist in ihrer melodischen Weiterentwicklung und Klangbrillanz am Ende kaum wiederzuerkennen. Die letzten zwei Minuten könnte ich zwei Stunden lang hören! Pepe-Pepe ist kein einfacher Track, wächst aber mit jedem Hören und hat sich letztlich zu einem meiner Lieblinge entwickelt. Ich bin sehr gespannt, ob sie diese Verrücktheit ins Live-Set aufnehmen!

Fata Morgana

Wie ein Doom-Metal-Song stampft Lo4 daher, mit schwerer Saturation und einer für Nyos ungewöhnlichen Düsternis. Die Gitarre erzählt eine Geschichte wie aus 1001 Nacht, der wummernde Sound ist fett und kriecht auch in den allerletzten Zwischenraum von Hirn und Schädel. Im Trancetanz wirbeln Drums und Gitarre um uns und einander. Mit dem letzten Aufwind des Sandsturms fliegen wir aus der Fata Morgana in die schnöde Realität zurück.
Lo4 würde ich als Nyos-untypischen Track eigentlich nicht als Einstieg in die Diskografie der Band empfehlen und doch ist er eine so mächtige Überraschung, dass ich mich in meinen Notizen in all caps anschreie: ANSPIELTIPP!!

Zwischen solch mystischer Wucht und der lockeren Stimmung von Be Free macht sich Walking In Moonlight hervorragend als Durchatmer. Im Vorhaben, sich auf Growl mehr auf Soundscapes zu fokussieren, wandelt das Zwischenspiel mit elektronischen Glitches in spacigem Ambient, bleibt mit seinen anderthalb Minuten aber – das ist mein einziger Kritikpunkt – lediglich ein Moment. Man möchte leider mehr.

Bandmotto: „Be free!“

Be Free ist ob seiner Rhythmusvielfalt einer meiner Favoriten des Albums! Man kommt schnell in den federleichten Flow des Songs. Wenn man dann plötzlich wie am Zügel gehalten wird und schneller voran will als es der zähe Takt erlaubt, ist das einerseits übelst lustig und gleichzeitig darf man Kainulainens minutiös explodierende und mit Leichtigkeit manövrierende Instinkte bestaunen. Nyos dürfen so mit uns spielen, denn ihre Ausführung von Komplexität macht unheimlich Spaß! Außerdem kann man mittlerweile darauf vertrauen, dass dem Duo eine gewisse Tanzbarkeit wichtig genug ist, um uns schnell genug auch wieder gelöst mitschaukeln zu lassen. Immer mehr Tunes gesellen sich zueinander und locken weiter, dort hinten wartet noch etwas, ich recke den Hals ein bisschen danach … Eine süße Lead-Melodie winkt uns zum Abschied, als würde sie sich in den Sonnenuntergang aufmachen, das Bandmotto zu leben, und uns das gleiche ans Herz legen: Be free! Sie bleibt mir noch ein bisschen im Ohr, weil sie kein großes Spektakel veranstaltet, sondern mir einfach so freundlich ins Herz scheint.

Faszinierend an Nyos ist auch, dass Loops zwar die Basis bilden und ewig präsent die Nerven kitzeln, aber nie auf ihnen herumtrampeln. Bei Alright, Goodnight korrigiere ich mich von „nie“ auf „selten“, und meine das mit viel Liebe für den letzten Song:

Der treibt mit Gitarrentremolos von der Dezenz eines Weckers in den Wahnsinn. Im freien Fluss kalkulierten Chaos‘ findet man seine Inseln auf dem sandigen Bett tiefen Saitenbrummens, kriegt aber dann doch von noch schrilleren Ausscherern unablässig auf die Wangen geklatscht. Ich muss mal wieder lachen und ergebe mich! Über aller Hektik schwebt am Ende ein langer Überraschungsmoment (!) kontemplativer Ruhe aus sanften und warmen Tönen, die auch die hartnäckigsten Schallplattensprünge versöhnlich stimmen – es fügt sich alles zusammen! Der Track könnte ganz schön Kopfweh bereiten, aber Tom Brooke weiß nicht erst seit seiner Arbeit am FOH für Oranssi Pazuzu und Sólstafir, was er mischt.

Von seinem eigenen Studio Tonehaven ging das Album zum Mastering an Guy Davie (Foals, King Krule, Four Tet, Fatboy Slim). Das Resultat ist ein Sound mit Fülle und Freiräumen, in denen Kontraste aus Hell und Dunkel in ihren jeweiligen Sphären atmen und die Songs in der Stimmung dazwischen zum Leben erwecken.

Ab Ende Oktober versetzt das Duo dem grauen Herbst seine Klangfarben, denn dann sind Nyos auf ausgedehnter Europa-Tournee. Ich kann versprechen: Ihre Konzerte sind kleine Perlen! Inmitten des Publikums positioniert, suchen die Musiker die Nähe und Energie der Zuhörenden – sich so kollektiv in der Musik zu verlieren, ist eine sehr besondere Live-Erfahrung, die sich in die Erinnerung brennt!

Nyos – Growl
Fazit
Nyos‘ Signaturstil ist technisch anspruchsvoll und auf Growl durchaus auch ab und an herausfordernd für Zuhörende – aber nicht verkopft. Math Rock minus Algebra. In Jams, ausgetüfteltem Songwriting und all den Details dazwischen geht es dem Duo hauptsächlich um Bauchgefühl und Spaß. Nyos‘ künstlerische Identität glänzt im Energierausch und im Ausdruck bedingungsloser Freiheit. Auf Growl besitzt diese immer ein gewisses Minimum an Extravertiertheit, auch dann, wenn sie diese als Tool verwenden, um die entgegengesetzte Route zu nehmen – selbst in der kniffligen Kunst gehaltener Spannung liegt Bewegung, und Freiheit bedeutet schließlich Offenheit in alle Richtungen!
Mal können wir uns aussuchen, wo wir hinhören möchten, mal nehmen Nyos uns bei der Hand und führen uns von einem Abschnitt in den nächsten; lassen in dichten Überlagerungen einen Loop nach dem anderen sachte die Führung übernehmen; balancieren Überspitzung und Subtilität; spielen geschickt mit Timing, Melodieverläufen und Hörerwartungen; lassen uns zwischen kristallklaren Tönen und erdigem Summen aber auch unsere eigenen Gefühle und Bilder malen. Klangfarbenfroh ist die Palette an Tonhöhen und Pedal-Effekten, offen die Landschaft!
Brookes minimalistische Melodien machen das Ohr neugierig, dissonante Tonfolgen halten es aufmerksam. Kainulainen lässt keinen Teil seines Equipments unverdroschen. Sein Spiel ist gewieft, weil stetig in seiner Bewegung und gleichzeitig ewig variierend, als bestünde das gesamte Set nur aus Fills. Der begnadete Mann meistert Sprints im Marathon und rast mit dieser Dynamik voraus, um für alle Stimmungen die Strecke zu ebnen.

Growl ist eines von Nyos‘ vielfältigsten und komplexesten Alben. Das hört man sich nicht bloß an, man begibt sich mitten hinein – hellwach oder in Trance, aber immer mit mindestens einem wippenden Körperteil.

Anspieltipps: Lo4, Lézard Rouge, Harder Than Rain und Pepe-Pepe
Eva B.
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