Sum Of R – Spectral

Alle Farben der Dunkelheit

Artist: Sum Of R

Herkunft: Schweiz & Finnland

Album: Spectral

Spiellänge: 49:19 Minuten

Genres: Experimental/Avantgarde Metal, Krautrock, Doom, Psychedelic, Drone Rock, Noise Rock, Dark Ambient

Release: 03.10.2025

Label: WV Sorcerer Production & Dusktone

Link: Sum Of R auf Bandcamp

Bandmitglieder:

Bass, Gitarre, Drones, Synthesizer, Effekte, Tapes, Metallofon, Mellotron, Manipulationen & Komposition – Reto Mäder
Schlagzeug, Percussions, Piano, Synthesizer – Jukka Rämänen
Vocals, Lyrics & Noise – Marko Neuman

Gastbeiträge:

Vocals – Juho Vanhanen (Oranssi Pazuzu, Grave Pleasures)
Bass – G. Stuart Dahlquist (Burning Witch, Goatsnake, Asva)
Vocals – Yusaf Parvez a.k.a Vicotnik (Dødheimsgard, Ved Buens Ende, Dold Vorde Ens Navn)

Tracklist:

  1. Solace (feat. Juho Vanhanen)
  2. Agglomeration (feat. G. Stuart Dahlquist)
  3. Null [exklusiv nur auf CD enthalten]
  4. Waltz Of Death
  5. Beer Cans In A Bottomless Pit (feat. Vicotnik)
  6. Empty Rooms
  7. The Solution
  8. Violate
  9. Cold Signatures
Sum Of R – Spectral (2025) | Cover Artwork: Felipe Froeder

Macht man das Beste aus einer Situation, wird manchmal noch Besseres draus.
Seit 2008 werkelte der Schweizer Musiker Reto Mäder (JeGong, Ural Umbo) größtenteils solo an seinem Projekt Sum Of R. Nach drei beachtlichen Alben und einer EP, alle instrumentaler Natur und mit einer Spannweite von Doom über Drone Rock bis Dark Ambient, traf eine Einladung des renommierten Roadburn zu dessen 2020er-Edition ein. Hinzugebucht wurde Drummer Jukka Rämänen (Hexvessel, Dark Buddha Rising, Waste Of Space Orchestra) und man dachte an den gemeinsamen Nenner Marko Neuman (Dark Buddha Rising, Waste Of Space Orchestra, Ural Umbo) als mehr als nur fähigen Gastsänger, um der Ehre mit einem speziellen Aufgebot zu begegnen.
Dann passierte, nun ja, nicht ganz nichts. Motiviert von einer gecancelten Tour und einem ausgefallenen Festival nahm Mäder zwischen zwei Lockdowns einen Flug nach Finnland, um innerhalb von drei Wochen etwas aufzunehmen, was die nunmehr zum Trio verschweißten Musiker Lahbryce nennen würden.

Obgleich die ersten vier Releases auf verschiedene Weisen tiefgründig, atmosphärisch und heavy waren und ich sie ohne Zögern empfehle, so klingt Sum Of R erst in seiner jetzigen Form „vollständig“. Man kann regelrecht hören, wie sich die drei kreativen Geister ergänzen und die Musik um mehr Ecken und Kanten bereichern. Rämänen erdet Mäders Kompositionen und pusht sie beständig zur Explosion. Neumans Noise-Magick entrückt in unbekannte Welten. Den größten Unterschied machen aber die tausend Stimmen in seiner Kehle: Die gewähren dem menschlichen Ohr einen einfacheren Zugang zur Musik, nur um es leichter zu befremden.
Lahbryce war lange einer meiner persönlichen Dauerbrenner.

Nun folgt Spectral. Damit veröffentlichen Sum Of R nicht bloß ein edgy Album, sondern Wahnsinn in Reinform.
Die Geister rufen.

Untergangsvisionen

Das bluesig-psychedelische Solace schwebt gemächlich durch den Nebel, mit Heimtücke neckt das Zupfinstrument. Marko Neumans Falsett haucht der Atmosphäre Gespenster ein, bevor sich Juho Vanhanen (Oranssi Pazuzu) von hinten anschleicht und die letzten Töne seiner verrottenden Existenz aus seinem dunklen Bau herauskrächzt. Besser könnte man mich nicht dort hineinlocken. Die Saturation von Taschenfalten und krisseligem Bass packt mich in Watte, lässt dem Sound aber noch genug Luft und mir damit genug Bewusstsein, um freien Willens meinen Geist der Hypnose und meinen Körper kalten Schauern zu überlassen.

Verhängnis verheißt der Bass von G. Stuart Dahlquist (Burning Witch, Goatsnake, Asva) und alles durchdringend ist seine höllische Hitze in Agglomeration. Der zweite Track ist kein bloßer Song, kein flüchtiges Interlude und kein zielloses Experiment. In dieser Untergangsvision ist Stimmung das Ziel. In noisig-industriellem Ambient flimmern Stimmen wie Erinnerungsfetzen, nur ein letzter überlebender Dämon streift suchend umher. Elektrische Störungen durchzucken eine Realität enormen räumlichen Ausmaßes. Seltsame Uhren ticken in Dissonanz mit ihrem eigenen Widerhall auf das Ende aller Dinge zu. Vielleicht kommt keins. Vielleicht ist das hier bereits die postapokalyptische Nachwelt. Vielleicht gibt es nicht einmal die.

Wie hier mit Frequenzen, Sounddesign und Unregelmäßigkeiten umgegangen wurde, ist hochspannend, doch der kreative Totalausbruch kommt mit dem nächsten Stück.

Was künstlerisch geht und was (angeblich) nicht

Wer das Album in CD-Format erwirbt, erhält mit Null ein surreales Kunstwerk an Absonderlichkeiten – ohne Ironie und im interessanten Sinne.
Fremdländisch anmutende Synths und ein nicht zu bändigendes, unglaublich präzises Drumspiel ziehen sich zusammen, immer dichter und dichter. Jukka Rämänen hat den Sound seiner Bass Drum derart fett gedämpft, dass ich seinen Fuß physisch auf meinem Trommelfell zu spüren meine. Neuman kreischt die explodierende Sehnsucht nach einem Höhepunkt heraus; auch wenn ich eigentlich keine verspürt hatte – finde ich das Spiel mit Unerträglichkeiten ja immer sehr spaßig, besonders bei einem so hervorragenden Sound – so ist dieser Zenit bestens getimt! Dann aber transportiert uns Reto Mäder per Metallofon über Wolken hinweg in jenseitige Sphären, die viel zu kitschig sind, um wahr zu sein, und wo es Neuman hörbar zum Fürchten findet – und zum Kotzen.
…Ist das Kunst oder darf ich lachen? Diese kompromisslose Ergründung von dem, was geht und was (von wem auch immer bestimmt) angeblich nicht, diese unerhört-aberwitzigen Kontraste bringen mich zum Nachdenken; unter anderem auch darüber, nach wie vielen begrübelten Metaebenen und hermeneutischen Zirkelrunden ich mich mit meiner EIGENEN Reaktion beschäftigen kann. Hey, der Autor ist schließlich tot. Ich bin hin- und hergerissen zwischen diesem Hintergrund heilig vor sich hin klingenden Friedens und den verzerrten Vocals. In deren letztem verzweifeltem Aufbäumen nehme ich sie dann aber doch ernster, als es mich die Hinführung hat erwarten lassen. Das Ende ändert für mich rückwirkend die gesamte zweite Hälfte und ich fühle mich auf faszinierende Weise irritiert.

Öfter als mir lieb ist, höre ich selbsternannte Musik-Kenner nach Innovationen schreien. Sind diese dann „zu“ waghalsig, ist es auch nicht unbedingt recht. Was es zu ergründen wert ist, liest sich nun aber nicht immer ohne eine gewisse Eigenanstrengung. Lasst euch drauf ein. Setzt euch ein paar Runden hin und hört der Kreativität beim Toben zu. Null wird vielen zu abgedreht sein. Aber es wird was mit euch machen – völlig egal, was.

Soundtrack für die dunkelsten Stunden

Sum Of R: Spectral (2025) |Foto: Tomi Isoviita

Viel eindeutiger in seiner Absicht schleppt sich Waltz Of Death daher. Auf diesem Trauermarsch darf man sich ordentlich einsuhlen: Durch matschig-sludgigen Doom waten wir neben dem giftspeienden Dämon aus Agglomeration unter scheppernden „Glocken“ Choralgesang entgegen, dessen Erlösungsversprechen nie ganz durch Drone-Schleier und Moordämpfe durchdringt. Im Spannungsfeld zwischen trügerischem Licht und geradezu greifbarer Dunkelheit erliegt es sich diesem Track unheimlich leicht! Am Ende entlarven schrille, schiefe Synths auch die allerletzte Hoffnung als vergängliche Lüge. Markerschütternd!

Aus der liturgischen Lethargie weckt uns Beer Cans In A Bottomless Pit per Alarm. Dessen Soundcharakter morpht und wah-wah-t in einen Puls hinein, der uns dann mitsamt Electrobeats und -bleeps, Synths und einem fast ins Unbewusstsein platzierten Piano wieder an einen ganz anderen Ort mitnimmt. Auf der Party im Spukschloss tanzt man zu Coldwave und Gothic, doch erst Vicotnik (Dødheimsgard) macht mit schluchzender Stimme und Wolfsgesang den Song endgültig zu dem, was er sein soll. So checke ich noch mal meine Trauermiene im Spiegel und begebe mich mit Freuden so weit in den Kerker hinab, wie man mich bittet.

Dieser Titel ist einer der „konkretesten“, auf welche die Bezeichnung Song am ehesten zutrifft. Die Nebelwanderung durch das Album geht ansonsten vonstatten mit wohlerwogenen Wirrungen, aber ohne jegliche Irrungen – kein Anschlag, kein Tastendruck und keine Reglerdrehung ist überflüssig; alles dient der Schaffung neuer Unterwelten.

Jene von Empty Rooms ist erfüllt von zischendem Becken, vergänglichen Klangfiguren und anschwellendem Unbehagen, bis uns die Hauptmelodie willkommen heißt und sich im Kopf eingräbt wie ein mystischer Gebetsruf, bestimmt für den Fall, dass die dunkelste Stunde naht.

Ähnlich wie The Problem auf Lahbryce (2022) ist The Solution auf Spectral das einzige Instrumental. Vielmehr noch implizieren die Namensgebungen im Tausch der Intention der Titel eine Verbindung:
The Problem wanderte mit magischen Loops und psychedelischen Riffs in stetem Tempo leichtfüßig vorwärts, dagegen bereitet The Solution mit minimalistischer Tritonus-Spielerei den Soundtrack für den Neunten Kreis und tritt im gottverlassenen Doom-Ambient auf der Stelle – Probleme als Richtungsweiser, Lösungen als fatale Treibsandfallen …

Auch ohne mein Hinzudichten kann man die Musiker mit den Codes künstlerischen Ausdrucks spielen hören. Die unermüdliche Erkundung musikalischer Abwege in lustvoller Hingabe ist als Form des kreativen Schaffens der große Star bei Sum Of R! Mit jedem Track führen sie mich weiter und lassen mich auch dort nicht los, wo sie verharren.

Formwandler

Vorbei an röchelnden Höllenhunden zieht man uns durch die kristallinen Höhlen von Violate und plötzlich finden wir uns im Hinterzimmer des Goth-Clubs von vorhin wieder, wo Tanz und Wut sich gegenüberstehen und in Neumans Insania zur Einigung kommen. Seine Performance ist zum Niederknien, egal, in welcher Gestalt er den Track beherrscht. Seine Präsenz reicht über akustische Dimensionsbarrieren hinweg und zentriert die Soundpower wie ein Magnet.

Beim letzten Track braucht man mit Erwartungen wirklich nicht mehr anzukommen. Archaische Trommeln im Intro von Cold Signatures rufen auf einen spirituellen Pfad, auf dem uns Rämänen plötzlich mit voller Gewalt von der Seite umnietet. Lässt man sich fallen auf den Teppich aus Noise, Synths und Drumanschlägen wie friedliches Herzpochen, hört man allerdings, wie der spirituelle Gedanke im Grunde nur seine Form gewandelt hat. Über uns beltet Neuman sich und uns den Himmeln ein Stück näher, während das Knistern und Klackern aus der Umgebung uns im Hier und Jetzt halten. Man hüllt uns in Licht und Wehmut, doch wäre das hier kein SoR-Titel, ohne diese Illusion ein letztes Mal schmerzlich-sachte einzuschmelzen …

Sum Of R – Spectral
Fazit
Sum Of R etablierten mit Lahbryce ihren neuen Sound, mit Spectral experimentieren sie sich in noch weitere Freiheiten. Die sind auf so viele Weisen so ungeheuer, dass ich darin eigentlich schon wieder einen Neuanfang sehe.
Die Band nutzt Genre-Verwandtschaften, deren Grade ich jedoch irgendwann aufgehört habe zu zählen, denn dieses gespenstisch-obskure Klanguniversum entsteht vielmehr durch Bildverzerrungen, das Zusammenmischen verbotener Elixiere und Auseinandernehmen von Wahrnehmung. Die Alchemisten machen es einem statt leicht lieber spannend! Oft täuschen die Tracks eine Form vor und verändern sich schneller, als man Erwartungen fertigdenken kann. Dualismen spielen ihre Wirkung mal im Wechsel, mal in der Gleichzeitigkeit aus und schaffen dadurch etwas schwer zu definierendes Drittes und Viertes und Fünftes, je öfter man das Album hört. Stimmungen kippen mal radikal, mal kaum merklich. In ihren Strukturen sind die jeweiligen Titel nicht übermäßig komplex, in ihren Texturen und Soundexperimenten dafür umso mehr.
Dabei sprechen wir nicht von intentionslosem Chaos, denn es wurde sich um jedes Einzelelement gekümmert. Rhythmen und Beats sind oft stur, aber nicht starr, sondern wandlungsfähig in ihrer Klangbeschaffenheit: Kälte wird zu Puls wird zu Tanz. Noise- und Drone-Effekte vertiefen und verformen den Sound zum ewigen Summen der dreiköpfigen Chimäre Sum Of R. Der Teufel verführt mit jedem Detail und führt uns über verworrene Abwege und unverhoffte Abzweigungen in musikalische Zwischendimensionen und faszinierendes Unbehagen hinein. Jeder Track schafft eine andere Unterwelt mit eigenen Schattierungen, und so deckt Spectral das komplette Farbspektrum der Dunkelheit ab.

Anspieltipps: Solace, Waltz Of Death, Beer Cans In A Bottomless Pit und Violate
Eva B.
9.4
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