Deafheaven – Lonely People With Power

Aggressiv, herzzerreißend und eines der Alben des Jahres

Artist: Deafheaven

Herkunft: San Francisco, USA

Album: Lonely People With Power

Spiellänge: 62:11 Minuten

Genre: Post Black Metal/Blackgaze, Black Metal

Release: 28.03.2015

Label: Roadrunner

Links: Homepage und Bandcamp

Bandmitglieder:

Vocals – George Clarke
Gitarre – Kerry McCoy
Gitarre und Synths – Shiv Mehra
Bass – Chris Johnson
Schlagzeug – Daniel Tracy

Tracklist:

  1. Incidental I
  2. Doberman
  3. Magnolia
  4. The Garden Route
  5. Heathen
  6. Amethyst
  7. Incidental II (feat. Jae Matthews)
  8. Revelator
  9. Body Behavior
  10. Incidental III (feat. Paul Banks)
  11. Winona
  12. The Marvelous Orange Tree

Die stärkste Darstellung dessen, was die Band ist – so kündigte George Clarke das neue Album an. Nun sind solche Pitches im Musikbusiness nicht neu, von Deafheaven kann man allerdings nicht gerade behaupten, heiße Luft zu puffen, um das Publikum anzuheizen – wenn sie nur das wollten, hätte es den Fan-Zankapfel Infinite Granite gar nicht geben dürfen. Nach dem (von mir sehr geliebten!) dreampoppigen 2021er und den anschließenden Touren kratzte die Band wieder mehr am Schwermetall, ein neuer Funke sprang über und entzündete Lonely People With Power.
Und ja. Ich glaube Clarke jedes Wort.

Ein emotionaler Trip

Soundexperimente ist man von der Band gewohnt, aber das 56-sekündige Incidental I macht mich beim ersten Hören dann doch extrem neugierig, wo es ab jetzt hingeht. Durch den verzerrten Vorhang eines Dimensionslochs ruft eine traurige Stimme wie aus einer fernen Erinnerung heraus. So etwas setzt man nicht aus Jux an den Anfang. Angesichts des übergeordneten Albumthemas – Beziehungen zu Menschen und das Kappen ihres machtvollen Einflusses auf uns – ist die befremdliche Intimität dieses Intros hochinteressant!

Der erste „richtige“ Track ist ein riesiger emotionaler Trip: Leicht und beinahe gemütlich beginnen die Riffs in getragenem Tempo von Doberman, wenn man aber anzieht und in die Blast Beats hineinrast, wartet jenseits des Klippenrandes ein Gefühl großer Freiheit. Der Aufprall knallt hart, die Leads packen mit ihrer Sehnsucht das Herz und drücken zu. Selbst als der Song kurz abebbt, bleibt er unter den himmlischen Synths immer noch zu aufregend (beeindruckend virtuoses Drumspiel von Daniel Tracy!), als dass dies das Ende sein könnte…

Der Ton ist gesetzt.

Magnolia wütet auf den Pfaden des postigen Black Metal mit seinem makellosen Flow und Übergängen, die man aufgrund ihrer Eleganz nicht immer mitbekommt. Helle Riffs schaffen im Versteck der Distortion eine psychologische Bedrohlichkeit, die sich im plötzlich hardrockenden Groove ihrer Geschwister noch weiter verdunkelt. Dieser Song ist Perfektion ohne jede Arroganz!

The Garden Route klingt, als wäre er für New Bermuda (2015) nur zu spät geschrieben worden. Der Song bewegt sich zwischen trügerischem Traum und trauriger Realität, grundiert vom elektronisch pulsierenden Widerhall der Gitarre. Riffs beklagen diesen resignierenden Grundton, indem sie ihn in Spiel und Tonart anfangs noch mimen. Nach dem ersten gewaltsamen Auflehnen setzen sie dann aber auf brillant klingenden Saiten einen melodischen Optimismus hinzu, der das an den Nerven kratzende Echo zu einem dringenden Alarm der Hoffnung uminterpretiert. Unter singenden Gitarren brechen wir schließlich aus und folgen der Band in einen Aufschrei der Ekstase.

Solch scheinbar minimalistische Handgriffe im Songwriting können gerade bei Post[-Musik] leicht aus den Ohren verloren gehen, bedeuten für die Atmosphäre eines Songs aber alles oder nichts. Natürlich muss und mag auch ich nicht immer analysieren, welche Empfindungen bei einem Album auf welche Art und Weise zustandegebracht werden. Kurz innezuhalten und sich des präsentierten Handwerks bewusst werden ist aber auch Teil des Spaßes, den ich bei einer Band wie dieser habe. Deafheaven sind im Großen wuchtig, und im Kleinen luftig, dezent und absichtsvoll, und das ist mitunter das Außergewöhnliche an ihnen.

Deafheavens Aggression schreit aus der Verletzlichkeit heraus

Gleiches gilt für die Bandbreite an Vocalkompetenz!
Auf Lonely People With Power stehen zwar wieder die vielgeliebten fiesen Screams Clarkes im Zentrum, aber dieser wusste anscheinend, dass er sich auf dem letzten Album zu viel stimmliche Freiheit genommen hatte, um diese wieder abzugeben. Und wem zuliebe sollte er das auch?
Für The Marvelous Orange Tree und Heathen wüsste ich keine kraftvollere Bereicherung als die Zartheit von Clarkes Kopfstimme. Vor allem an der Stelle, an die Heathen platziert wurde – nach drei Stücken voller Stimmbrutzeln heben sich meine Augenbrauen überrascht und ich summe, als äße ich gerade etwas, von dem ich vergessen hatte, wie gut es schmeckt.
Der Wechsel zwischen Klargesang, Screams und gesprochenem Text innerhalb des Songs ist nicht einmal wirklich scharf oder gar Baustein-artig, da Heathen auch dynamisch und instrumental großartig ausbalanciert wurde und die Aggression bei Deafheaven ohnehin immer aus der Verletzlichkeit herausschreit. Die melodische Leichtigkeit der Gitarren schwebt auch dann unbeirrt weiter durch den Track, wenn Blast Beats den Aufwind bringen. Chris Johnsons erdiger Bass ist unter den glockenhellen Gitarren die reinste Freude für das Ohr!

Mit Amethyst wurde ein wahres Kronjuwel ins Zentrum des Albums eingesetzt.
Sehnsüchtig dröhnen die Synths, selbstvergessen spielt die Gitarre wie in der Tonspur eines alten Schwarzweißfilms. Im Sechsachteltakt scheint der Song in George Clarkes Erinnerungen zu schwelgen – dieser Schmerz ist herrlich süß!
Erlösung wird versprochen, wenn sich die Gitarre von sanften Melodien in kreischende Tremolos hineinsteigert und mit der Spannung über allem erhaben ist. In seinem abrasiven und gnadenlos langen Höhepunkt reißen die Wunden vollends auf. Vocals und Riffs kommen dann mit einer abgründigen Bosheit, die Drums mit wildem Double Bass, und von Dissonanzen gegeißelt bleibt uns doch nur, mitzurennen.
Gereinigt kommen wir auf der anderen Seite wieder heraus und es ist, als würde man den ersten Atemzug in einem neuen Jetzt tun. Deafheaven geben uns hier noch einen heilsamen Moment, um die Aussicht zu genießen, bevor sie uns sachte auf dem Boden absetzen.

Dieser erste Teil des Albums besitzt in sich eine Stimmungsvielfalt epischen Ausmaßes, und beim ersten Hören kann man sich nicht ausmalen, was zur Hölle jetzt noch folgen könnte.
Also: Ab in die Hölle!

Der Eingang liegt in Incidental II.
Wenn sich im Ambient der elektrifiziert doomgazigen Klangverstörung die Stimme von Jae Matthews (Boy Harsher) zentriert, kann und will ich nur den Kopf neigen, ebenso statisch verharren wie der Track und dem einsamen Schmerz der Worte meine angespannte, ungeteilte Aufmerksamkeit zur Seite stellen. In der Kälte scheint die Stimme etwas zu suchen. Leise Saitenanschläge und unheilvolles Ticken begleiten einen Moment absoluter Trostlosigkeit. Die emotionale Explosion aus Noise, Screams und Matthews‘ Klage kommt einem inneren Absturz gleich, und es ist, als verschwände das Ich des Songs nach seinen letzten Worten endgültig in der Dunkelheit.

So geht moderner Black Metal!

Nach dieser Introspektion bereiten die ersten Töne von Revelator ein Aufwachen per Schlag in die Magengrube, denn die vier Musiker beschwören bereits im kurzen Intro die apokalyptischen Reiter herauf. Noch vor Doberman und Magnolia ist dies (lieber Hater!) unbestritten der brutalste Black-Metal-Track des Albums!
In der Schwärze des Songs reißt das Beben der Drums den Boden auf, Staccato-Riffs explodieren in schrillen Dissonanzen um uns herum oder grollen aus den Tiefen der Erdkruste. Ein harter Schnitt, ein Abgesang der Akustikgitarre – war das das Ende der Welt? Die Ruhe ist nicht suspekt genug, dass der Schreckmoment mich nicht jedesmal (JEDES VERDAMMTE MAL!) dem Tode nahebringt. Im Finale wird verwüstet, was übrig ist, Clarke mutiert zur Bestie…und beendet alles mit einem „Brüller“, der mich lachend zurücklässt!

Am meisten „Spaß“ macht auf dem Album der Song Body Behaviour. Mit seiner eigenen Art Rock’n’Roll, fröhlich gelaunten Saitenzupfern, blitzschnellen und Donner herbeischellenden Fills und Blast Beats fordern Deafheaven zu einer Runde rausgelassener Tanz-Wut auf. Im Spiel mit den ernsten Lyrics holt der Track emotional unglaublich gut ab! Mich hat er nach einem schlechten Tag in genau dem richtigen Moment erwischt.

Lichte Gefilde

Im letzten Teil kehren wir in lichtere Gefilde ein.
Vor dem metallischen Schleifen und Wabern der Ambient-Kulisse, in der Synth-Akkorde wie Autos vorbeirasen, lässt sich Geschichtenerzähler Paul Banks (Interpol) nicht hetzen und beschreibt uns in Incidental III eine Erinnerung, die ebenso intim und unschuldig ist, wie sie vorgetragen wird.

Fans von Sunbather (2013) erhalten gegen Ende ein Geschenk.
Majestätisch erhebt sich die blackgazige Schönheit Winona in einen Rausch aus Noise und vielseitigen Drums. Die Tremolo-Melodien sind melancholisch, federleicht und in dem riesigen Klangraum so frei, dass ich lächelnd einmal extra tief durchatme. Auf ruhigerer See schmiegt sich die Gitarre liebevoll ans Ohr – es ist, als könne man Licht hören! Fies angezogen wird natürlich noch einmal mit dem letzten Teil und ich bekomme in den Lyrics eine Ahnung vermittelt, wie es sich anfühlt, wenn man im Leben nichts mehr zu verlieren hat.

Was das wirklich bedeutet, davon singt Clarke mit klarer Stimme im Abschlusstitel. Dieser klingt wie ein Epilog zu Winona, ach was, zum gesamten Album! In der friedlichen Soundlandschaft von The Marvelous Orange Tree wird man von Trost empfangen und darf in Schwerelosigkeit treiben. Clarkes Screams triumphieren zusammen mit langen Gitarrennoten über etwas, das Zuhörende dem Song jeweils aus ihrem eigenen Leben beimischen werden.
Solche Momente sind wie Treffpunkte von Menschen, die Musik schaffen und Musik hören. Dort entsteht Magie. Und darum werden sich um Lonely People With Power viele versammeln!

Ich bin grundsätzlich vorsichtig mit der Verkündung des „besten“ Albums in der Diskografie einer Band, einfach weil hier Superlative relativ sind. Diesmal muss ich mich aber außergewöhnlich am Riemen reißen, denn ich habe keinen Zweifel, dass die Wellen von diesem Werk eine sehr lange Zeit ausstrahlen werden. Falls mein Innenleben nach dem letzten Song irgendeine Indikation ist.
Diese aktuellen Deafheaven sind das kondensierte Resultat ihrer vergangenen Versionen, und das Album ist nicht nur dahingehend so (ausdrucks)stark wie Clarke es angekündigt hatte. Die Lyrics sind trotz ihrer Kryptik greifbar, die Songs formen einen Soundtrack: Für Abschiede. Für Übergänge. Für Neuanfänge. Für das Leben.

Deafheaven – Lonely People With Power
Fazit
Lonely People With Power öffnet Wunden und pflegt sie gesund. Ebenmäßig ausbalanciert spielen Deafheaven das gesamte Spektrum von Zerbrechlich bis Stahlhart ab, sowohl in der Gleichzeitigkeit von Double Bass und herzzerreißenden Melodien als auch im flüssigen Auf und Ab der Gezeitenströmung epischer Songs. Die härtesten Stücke ihrer Karriere kreieren Deafheaven aus schmerzend rohen Emotionen heraus, und wenn man in dem massiven Sound ertrinkt, ist das entweder mit Stankface oder seligem Grinsen. Die feine Ausführung der Details schweißt all diese Kontraste zu einem riesigen Ganzen zusammen – in sich geschlossen, rund UND mit Ecken und Kanten! Das Album hat alles! Songwriting und Experimente sind auch an den überraschendsten Stellen abwechslungsreich; die Ambient-haften „Interludes“ besitzen in Komposition und Arrangements einen auffälligen Experimentalcharakter und halten – auch dank ihrer Gast-Stimmen – ihre Position als „richtige“ Songs, die das Album vorantreiben und das Ohr erfrischen. Zudem hört man gerade an ihnen das Handwerk von Produzent Justin Meldal-Johnsen (M83, Nine Inch Nails, St. Vincent).
Was auch immer 2025 musikalisch noch bringen mag: Hier ist schon mal das erste Album des Jahres!

Anspieltipps: Amethyst, Revelator, Doberman, Incidental II und Winona
Eva B.
9.7
Leserbewertung1 Bewertung
9.5
9.7
Punkte