Schammasch – The Maldoror Chants: Old Ocean

Die Kosmosschöpfer

Artist: Schammasch

Herkunft: Basel, Schweiz

Album: The Maldoror Chants: Old Ocean

Spiellänge: 51:17 Minuten

Genre: Avantgarde Metal, Dark Ambient, Post Black Metal

Release: 25.10.2024

Label: Prosthetic Records

Links: https://schammasch.com/ & https://schammasch.bandcamp.com/

Bandmitglieder:

Vocals & Gitarre – C.S.R.
Gitarre – M.A.
Gitarre – J.B.
Bass – P.D.
Schlagzeug – B.A.W.
Gastvocals – Kathrine Shepard
Gastvocals – Okoi Jones
Gastvocals – Phil ‘sG‘ Jonas

Tracklist:

  1. Crystal Waves
  2. A Somber Mystery
  3. Your Waters Are Bitter
  4. They Have Found Their Master
  5. Image Of The Infinite
  6. I Hail You, Old Ocean
Schammasch – The Maldoror Chants: Old Ocean (Cover) – Artwork Illustration: Héctor Pineda; Artwork & Layout: Eyes of Saros; Layout Illustration: Adrian Baxter

Schammasch sind eine Rarität. In jeglichem Sinne.
Leider konnte man die letzten Jahre, bedingt durch Pandemie und ihre Nachwehen, viel zu selten in den Genuss ihrer Live-Performances kommen. 2023 gab es mit Harakiri For The Sky und Groza eine ausgedehnte Tour durch die Säle Europas, doch ansonsten muss man schon auf kleinen (aber exquisit kuratierten!) Underground-Festivals unterwegs gewesen sein, um diese süßlich kalte Luft zu atmen.

Schammaschs letztes Album Hearts Of No Light ist zudem bereits fünf Jahre her, und die Sehnsucht von Fans nach einem neuen Release groß.
Mit ihrer nun folgenden musikalischen Erzählung knüpfen sie allerdings an eine noch frühere an. Auf ihrer 2017er EP The Maldoror Chants: Hermaphrodite nahm sich C.S.R. des monströsen Unterfangens an, Lautréamonts Les Chants de Maldoror in einer Reihe von Konzeptalben zu vertonen.

Kurzes literaturwissenschaftliches Briefing:
Das von der Schwarzen Romantik beeinflusste Werk ist eines der radikalsten (nicht nur) des 19. Jahrhunderts und erzählt in sechs Gesängen zunächst zusammenhanglos wirkende Geschichten von Maldoror, der unwiderstehlich schönen und höchsten Ausgeburt des Bösen selbst. Im Kampf gegen Gott und Menschheit verfolgt dieser das Ziel, sie alle in ihrer Boshaftigkeit zu übertreffen und mit vorgehaltenem Spiegel zu vernichten.
Um die moderne Vorstellungskraft etwas zu aktivieren: Das Ganze geht vergleichbar abgründig ab wie in Clockwork Orange oder American Psycho, ist mitunter so tierisch absurd wie Kafka und so erotisch wie Haifisch-Sex eben so sein kann …
Die komplexe Moralität ist eingefasst in lange Fließtexte voller Metaphern sowie zu Montagen zusammengefügter Stilmittel und Gattungsformen. Ein verstörendes Spiel mit Erzählperspektiven setzt die Geschichten in unangenehme psychologische Nähe der lesenden Person. Zu alledem zieht sich durch die „Strophen“ ein wahnhafter Stil, der den Begriff Écriture automatique schon veranschaulichte, bevor es ihn gab. Eine Zeitlang in Vergessenheit geraten, wurden Die Gesänge des Maldoror von der Surrealismus-Bewegung wiederentdeckt und mitsamt ihrem Kunstrevolutionsgedanken und ihrer grotesken Ästhetik und in sich aufgesogen. Die Nähmaschine und der Regenschirm auf dem Seziertisch? Exakt!

Für eine musikalische Übersetzung eines literarischen Werks von solch formaler wie inhaltlicher Sprengkraft, philosophischem Tiefgang und künstlerischem Anspruch kann ich mir keine fähigere Band vorstellen als Schammasch.
Dass Songwriter C.S.R. keine Scheu vor großen Kreationen und Gedanken hat, dafür ist selbst das vielgepriesene Tripel-Album Triangle (2016) nur ein Zeugnis von vielen. Durch ihre Diskografie an herrlich untrvem Black Metal und Dark Ambient ziehen sich etliche Acht(-und-mehr-)minüter an Songs mit philosophisch-spirituellen Konzepten in Titeln und Texten, in die es erstaunlich leicht ist, abzutauchen, weil die Musik in ihrer atmosphärischen Ummantelung den Geist mit Bildern und Emotionen füttert. Ihre Intellektualität ist auf nahbare Weise interessant, nicht auf algebraische.
Und das ist auch wieder der Fall auf The Maldoror Chants: Old Ocean.

Der erste Track des Albums lässt einen ab dem ersten Saitenzupfen entlang seines Spannungsbogens mitvibrieren: Es kündigt sich eine Präsenz an, bei dessen Gedanke die Akustische nervös wird und Streicher erzittern. Das Meer ist nicht friedlich, sondern in erwartungsvoller Bewegung. Die Atmosphäre verdichtet sich unter elektrisierendem Flimmern in der Ferne und elektrischen Gitarren, die wie hinter einem schweren Schleier hervorklingen. Bis die Herrschaft beginnt. Man ist dann schnell mittendrin, umzingelt vom Donnern der Drums und unterworfen von einer rauen Stimme.
Aus den Saiten webt sich ein immer kunstvolleres Geflecht voller Klangbrillanz. Ein Sturm von vielen bricht los. Vocals erzählen ein Geheimnis und verbergen tausende mehr, heisere Drohungen finden in Gesängen ihre Bestätigung. Auch die Gitarren gehorchen und erheben sich in kathartischen Leads über unsere Köpfe hinweg. Am Ende bleibt unter dem Gewitter der Blast Beats nur noch, sich in der noisigen Gischt den Wogen hinzugeben und in die Ewigkeit ziehen zu lassen.
Mit welcher Mühelosigkeit und Intensität Schammasch ihre Bilder aus Crystal Waves in meinen Kopf zaubern und mit welcher Selbstverständlichkeit meine eigenen dazu entstehen, ist nichts anderes als ein beeindruckendes Zeugnis des sicheren musikalischen Gespürs und Handwerks dieser Musiker. Auch mein Zeitgefühl ist wie verhext: dreizehneinhalb Minuten wurden mal eben zu zwei.

Schammasch – The Maldoror Chants: Old Ocean | Foto: Ester Segarra

A Somber Mystery ist genau das. Im Dark Ambient dieses Interludes dröhnen die Elektrischen aus einem Loch im Raum-Zeit-Gefüge, während uns das unvorhersehbare und virtuose Zupfspiel auf einer klassischen Gitarre und die trickreichen Geräuschplatzierungen der Drums gerade so im Hier und Jetzt halten.

Schwere Distortion und groovige Horrorfilm-Riffs werfen uns in Your Waters Are Bitter.
Die Energie des Songs ist aggressiv, ohne dass er seine majestätische Haltung verliert, auch dank der keifenden Vocals und den opernhaften anmutenden Huldigungen. Man darf sich an Tempowechseln und singenden Gitarren erfreuen, wobei das Highlight im Herzen des Songs steckt, einem apokalyptischen Chaos aus Stimmen, Blast Beats und instrumentaler Dunkelheit. Aus diesem ziehen Schammasch noch einmal einen Stoß mächtiger Magie und schreiten in der Trance eines unheilvollen Doom sicher dem Ende entgegen.

Mit They Have Found Their Master haben wir ein vielseitiges Stück, das mit kleinen Überraschungen und großer Performancekunst mitreißt.
Das stetige Anschwellen des Songs durch die nach und nach hinzukommenden Instrumente weckt eine unheimliche Vorfreude, weiter befeuert von den Schlägen der Ritualtrommel. Der Bass ist ein wohltuender Ruhepol, doch die Zeit tickt in Akkorden weiter, hohe Tremolos kitzeln das Ohr, alles stoppt und die Welt explodiert. Vocals attackieren mit tausend Gesichtern – als Phantome im Nebel, allwissende Dämonen oder eine verzweifelte Seele, dem Zweifel verfallen. Der eiskalte Wind des Black Metal bringt ein wirbelndes Gitarrensolo mit sich, um den Song in seinen dramat(urg)ischen Höhepunkt aus erhabenen Mantras zu führen. In den beschwörenden Vokalisen von Gastsängerin Kathrine Shepard (Sylvaine) erhält die Spannung sogar mit der Atmung ihre rhythmischen Stützpfeiler und Lebendigkeit. Dieses Detail kontrastiert für mich auf geniale Weise den hechelnden Wahnsinn des Songintros und schließt den Track mit Perfektion ab! Was sonst noch an Detailliebe in den Mix der Vocals geflossen ist, darüber ließen sich Seiten des Lobes verfassen, aber ich sollte mich irgendwann auch mal wieder einkriegen.

Image Of The Infinite ist eine Schönheit an Gothic-Ballade voller Leichtigkeit und Mysterium, mit getragenem Gesang und Gitarren aus einer Welt unter der Wasseroberfläche. Egal, in welche Richtung ich mich wende, es kommt immer etwas zu mir: ein Raunen, ein sachter Saitenanschlag, ein Hallen, ein kleiner Drumfill. All das findet zusammen, ohne auf die falsche Weise zu überwältigen. Man darf kontemplativ zusehen, wie sich Szenerien verändern. Bis sich ein Duogesang erhebt, dessen Melodie sich als Refrain eignen würde, aber auch nicht prominenter sein muss, um im Gedächtnis zu bleiben. Überhaupt kreiert die schwerelose Stimme von Kathrine Shepard (Sylvaine) eine Reinheit in der Atmosphäre, die fast schon heilig ist. Der Song hat es nicht nötig, in Dramatik weiter anzuschwellen, und so wurde ihm schlicht alle Zeit zum Wirken gegeben. Im Zusammenspiel vermitteln die Instrumente den Eindruck einer kontinuierlichen Melodie, die eigentlich nicht wirklich existiert. Stattdessen wird man gebettet auf Lagen verträumter Riffs (brillant subtiler Einsatz der Westerngitarre!) und einem warmen Drumsound, und auf den Weiten des Ozeans in einen inneren Frieden hineingewiegt.

Vorsichtig ausgedrückt, ist I Hail You, Old Ocean der „typischste“ Metal-Song des Albums (ohne dass man sich jedoch um irgendwelche Subgenres scheren müsste). Denn die Gitarren sind hier die absoluten Stars!
In den simplen, aber intensiven Leads steckt ein sehnsuchtsvolles Flehen, im nächsten Moment flattern Tremolos mit einer Rage, die sturer nicht sein könnte, oder tanzen sich Riffs mit sinfonischer Schönheit gemeinsam durch die Takte. Die Rhythmusgruppe versteht es hervorragend, den Kampfgeist in der Songmitte mit mächtigen Anschlägen völlig neu zu entfachen, ohne dass er zuvor je nachgelassen hätte. Die Stimmung über zehn Minuten lang aufgewühlt und spannungsreich zu halten, ist kein einfaches Unterfangen, aber hier ein vorbehaltlos gelungenes! Auf den Melodieflüssen der von ihren Begleiterinnen flankierten Leadgitarre rast man weiter durch die Landschaften und gleitet allmählich in einen herrlichen Schwebezustand zwischen heiligen Lobgesängen, sanftem Ruf der Trommel und Streichern, die alles mit einem letzten, völlig neuen Licht durchfluten.
Es ist, als hätte es den Rausch der letzten 51 Minuten nie gegeben, und doch wäre ich ohne sie emotional nie an diesen Punkt gekommen.

Schammasch – The Maldoror Chants: Old Ocean
Fazit
Schammasch nehmen sich mit ihrem neuen Album wieder große künstlerische Freiheiten, die nicht mehr oder weniger Sinn ergeben als auf bisherigen Releases. Das ist ein riesiges Kompliment für die Kreativität im Signatur-Sound der Schweizer! C.S.R. hat mit seiner Band über die Jahre einen Klangkosmos geschaffen, in dem alles verbunden ist, auch wenn das Teleskop mal umschwenkt.
Während der Fokus im ersten Maldoror-Gesang auf kraftvoll dronigem Dark Ambient lag (den C.S.R. in seinem Seitenprojekt Monastery Of The Void weiterführt), besitzt der zweite großen Facettenreichtum sowie eine klarere Struktur, und wird durch beides kohärent in seinem komplexen Narrativ. So gesehen, und auch in Bezug auf die Melodiequalität von Vocals und Riffs, schlägt sich vom thematisch unbeteiligten 2019er-Album eine besonders auffällige Brücke in Form eines seiner zentralen Songs: Wer sich von A Paradigm Of Beauty im Speziellen angesprochen fühlte, kann sich auf dem neuen Album an noch mehr dieser Art diabolisch strahlender, makelloser Schönheit erfreuen.
Neben Gothic fügen sich intensiver Doom, Post und Black Metal harmonisch in die Ambient-Kulisse ein, ab und an weht es ein wenig klassisch durch die Soundscapes. Das sei aber nur zur Orientierung erwähnt, denn wie immer sind Schammasch ihrer Vision hörig, nicht Genres. Vom Metallischen bis zum Abstrakten ist ihre Musik vor allem eines: Immersiv! Die Schichten an Instrumenten ergeben zusammen eine dichte Textur, auf der man sich betten oder aus der man seine Lieblinge herauspicken kann, denn in dem grandiosen Mix ist jedes Detail hörbar! Unter all den herausragenden Veröffentlichungen der Band habe ich keinen Favoriten. Irgendwie wäre mir das zu profan. Der Reichtum von Schammasch ist groß und ihre Liebe zur Kunst tief! Und das möchte ich einfach annehmen, darin jedes Mal Neues entdecken, daran kann ich mich laben, ohne Ansprüche zu stellen. Diese würden ohnehin übertroffen!

Anspieltipps: Crystal Waves, Image Of The Infinite und I Hail You, Old Ocean
Eva B.
9.5
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