Nightwish – Yesterwynde

Ein Windhauch tausend gelebter Leben

Artist: Nightwish

Herkunft: Finnland

Album: Yesterwynde

Genre: Symphonic Metal

Release: 20.09.2024

Label: Nuclear Blast

Format: CD, Vinyl, Digital

Link: Nightwish

Bandmitglieder:

Gitarre – Emppu Vuorinen
Schlagzeug – Kai Hahto
Gesang – Floor Jansen
Aerophon, Bouzouki, Gitarre, Gesang, Bodhrán, Dudelsack – Troy Donockley
Keyboards – Tuomas Holopainen
Bass – Jukka Koskinen

Tracklist:

1. Yesterwynde
2. An Ocean Of Strange Islands
3. The Antikythera Mechanism
4. The Day Of…
5. Perfume Of The Timeless
6. Sway
7. The Children Of ‚Ata
8. Something Whispered Follow Me
9. Spider Silk
10. Hiraeth
11. The Weave
12. Lanternlight

Starten wir dieses Review mit einem Trinkspiel: Jedes Mal, wenn eines der Wörter „episch“, „monumental“ oder „symphonisch“ vorkommt, wird ein Kurzer geext. Im Ernst – wer sich in den letzten beinahe 30 Jahren auch nur am Rande mit Nightwish befasst hat, der weiß genau, dass das Kopfschmerzen gibt, und auch wenn die ersten Outputs noch deutlich geradliniger und ungeschliffener als neuere Werke waren – den Hang zu Theatralik, einnehmenden Melodien und – nun ja – epischer Instrumentierung gab es bei den Finnen schon immer. Das Opernhafte – ganz früher primär getragen von Tarjas Sopran – hat mit den Jahren auch mehr und mehr in die Struktur der Kompositionen Einzug gehalten, verwirklicht durch längere Instrumentalpassagen, Chöre und das Wechselspiel kontrastierender Stimmen und Stimmungen.

Den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellte das letzte Album Human. :II: Nature. dar, und Yesterwynde knüpft musikalisch ziemlich genau dort an, wo der letzte Ton von Endlessness nachhallte. In seiner metaphorischen Mehrdeutigkeit trägt dabei das Kunstwort Yesterwynde bereits die DNA des Albums in sich: Der Strom der Zeit, in der Gestalt eines Windes, der durch das Leben eines jeden Menschen weht, mal sanft und wohlwollend, mal als Sturm, der uns niederzwingt und Außerordentliches abverlangt, und der die Träume und Erfahrungen unserer Vorfahren mit sich trägt. Ein stetiger, ununterbrochener Widerhall dessen, was war, und der gegenwärtige und zukünftige Lebenswege beeinflussen wird. Dieses Bild des unaufhörlichen Lebens und Sterbens manifestiert sich am deutlichsten im – aus meiner Sicht zentralen – Stück des Albums Perfume Of The Timeless, ein monumentales Stück von berückender Schönheit, in dem alle Nightwish-Trademarks zusammenfließen, und das sich über Minuten langsam aufbaut. Floors Stimme wird am Ende von Troys sanftem Organ abgelöst, während im Hintergrund Chöre und Echos die Spuren und Bande menschlichen Seins über die Jahrtausende vertonen.

In Spider Silk wird dieser immerwährende Lebensfaden zu Materie und manifestiert sich als Spinnennetz, die metaphorische Spinne als wahl- und leidenschaftslose Entscheiderin über Leben und Tod, neue Netze, die gewoben werden, bringen neues Leben und wird der Faden abgeschnitten, dann endet das Leben, aber der Kreislauf hört nie auf, und das Weben der Netze geht auf ewig weiter.

Wie verschlungen die Wege des Lebens sein können, erzählt dann auch der Song The Children Of ’Ata. Die wahre Geschichte von sechs Jungs aus Tonga, die in den Sechzigern mit einem geklauten Boot aus der Schule abhauen wollten, und die ein Sturm auf eine einsame, unbewohnte Insel trug, auf der sie 15 Monate bis zu ihrer Rettung überlebten. So interessant die Einleitung auf Tongaisch ist – die Synthie-Instrumentierung wirkt hier (zumindest am Anfang) deplatziert und klingt wie ein beliebiges EBM-Versatzstück. Erst als das Gestampfe nach und nach orchestralen und metallischen Elementen weicht, gelingt das Eintauchen in diese berührende Anekdote. Man könnte nun noch alle weiteren Songs im Detail beleuchten, etwa den dritten, in dem es um den ersten analogen Computer der Welt geht, und wie er half, zur Zeit der Alten Griechen mit dem Mut der Abenteurer zu neuen Ufern vorzustoßen. Aber den Rest soll nun jeder für sich selbst entdecken.

Beschlossen wird Yesterwynde dann von der bereits vorab veröffentlichten Single Lanternlight, und hier fällt es wahrlich nicht schwer, die Metapher zu deuten. Nach über 70 Minuten ist das Ende des Albums erreicht, ebenso wie das fiktive Ende einer Lebensgeschichte, sanft von Klavier, Synthies und den wunderbaren Stimmen von Floor und Troy erzählt.

Turn loose the swaying boat
Meltwater, sound of spring
I hear our song now, sung by the free
For a thousand more tomorrows
Of an incomplete weave
To the meadows I go
I’ll be waiting for you
Once upon a lanternlight<

Für all jene, die Yesterwynde „nur“ als symphonisches Metal-Epos nebenbei genießen wollen, bietet das zehnte Werk von Nightwish bereits mehr als genug Futter, um sich an der Fülle an Emotionen, Instrumenten und Floors und Troys wundervollem Gesang zu berauschen. Für die, die sich die Zeit zum Eintauchen in das lyrische Element des Albums nehmen, bietet Yesterwynde aber noch so viel mehr als nur eine solide Leistung gestandener Musiker. Hier wird wieder einmal auch Tuomas‘ kompositorisches und lyrisches Genie deutlich.

Nun könnte man fragen – wenn all das so wunderbar, so einzigartig ist, warum steht am Ende keine glatte Zehn in der Wertung? Aus zwei Gründen.

Zum einen (und das ist definitiv Geschmackssache) wirken die Arrangements hin und wieder arg überladen. So passend, ja geradezu notwendig, die üppigen Arrangements im Grunde für den Nightwish-Sound auch sind und auch wenn die Produktion gut genug ist, um das Ganze nicht zu einem Klangbrei werden zu lassen – manchmal übertreibt es die Band, und die wirklich gelungenen Kompositionen gehen unter im schieren Bombast.

Zum anderen ist Yesterwynde sehr nah am Vorgänger, und auch wenn der ständige Ruf nach Innovation sicherlich auch nervt, so muss eine Band dieser Größe auch mit einer anderen Erwartungshaltung umgehen können als ein Newcomer, der gerade mit seinem ersten oder zweiten Werk einen Achtungserfolg verbuchen konnte.

In jedem Fall ist Yesterwynde ein mehr als nur starkes Album geworden, das seine ganze Pracht vor allem dem aufmerksamen Zuhörer und Leser offenbart.

Nightwish – Yesterwynde
Fazit
Nightwish gehen den eingeschlagenen Weg orchestraler Arrangements und des metapherschweren Sinnierens über Leben und Tod konsequent weiter. Dennoch ist Yesterwynde kein zweites Human. :II: Nature. Einziger Kritikpunkt: Manchmal ist weniger mehr, die teils überladenen Arrangements begraben hin und wieder die durchweg starken Songs unter sich.

Anspieltipps: Perfume Of The Timeless, Sway, Lanternlight und The Day Of...
René R.
8.9
Leserbewertung1 Bewertung
9
8.9
Punkte