Eventname: Nordic Descent Tour 2024
Headliner: Sólstafir
Weitere Bands: Helga, Oranssi Pazuzu
Ort: La Machine du Moulin Rouge, Paris, Frankreich
Datum: 26.11.2024
Genre: Post Metal, Progressive Metal, Psychedelic Black Metal, Avantgarde Metal
Besuchende: ca. 800 (ausverkauft)
Veranstalter: Garmonbozia
Setliste von Sólstafir:
- 78 Days In The Desert
- Silfur-Refur
- Blakkrakki
- Svartir Sandar
- Ljós Í Stormi
- Hún Andar
- Fjara
- Hin Helga Kvöl
- Ritual Of Fire
- Ótta
- Goddess Of The Ages
An diesem Novemberabend wird ein kalter Nordwind wehen. Zumindest laut Tourposter. Darauf versprechen die Namen von drei Bands, in der „Machine“ des Moulin Rouge einen Abend, auf den ich mich seit Wochen heftig gefreut habe. Das KANN gar nicht schlecht werden! Und von eisiger Atmosphäre wird hinterher auch niemand sprechen – ganz im Gegenteil!
HEEEELGAAAAAAA!!!!!
Die schwedisch-britischen Helga haben als Supportband den Staffelstab von Hamferð übernommen, und heute ist ihr erstes Konzert dieser Tour. Und, Leute, was für eine Einstimmung auf diesen Abend!
Aus der Dunkelheit heraus beginnt die bandnamensgebende Sängerin das erste Stück mit ätherischem Gesang, bei dem sich sofort die Ohren spitzen. Der Rhythmus von Bass und Drums lockt die Menschen näher zur Bühne, und was eben noch eine fast vollständig freie Fläche war, ist, als ich mich das nächste Mal umdrehe, voller aufmerksamer Gesichter. Mit einem frischen Stil ist die Band gerade dabei, sich einen Namen zu machen: Der Groove könnte auf den Trommeln heidnischer Naturstämme komponiert worden sein, dabei ist das Djent-Spiel auf den Saiten derart tight, dass der Prog sofort durchkommt, in den Post-Landschaften der Songs ist es düster. Helga Gabriel führt uns als Aufmerksamkeitsfixpunkt durch die Songs, mal mit sanften Pop-Tönen, so hervorragend am Pult abgemischt, dass jeder Hauch an Note den Weg durch die Heaviness findet, mal mit Chants in der Art festen Stimmschlusses, der mich die Sängerin schon als potenziellen Zuwachs im Background-Chor von Heilung sehen lässt. Ihre Screams haben in diesem Kontext einen enormen Überraschungsfaktor!
Jenen, die kein Schwedisch oder Englisch sprechen, erzählt sie die Geschichten der Stücke mit großen Handgesten. Ob diese Warnungen oder Verheißungen sind, ist ein reizvolles Geheimnis, und mit dieser Show habe ich bereits mehr bekommen, als ich mir selbst vorab prophezeit hatte. In intensive Farben getaucht, wirkt das Mysterium der Performance noch tiefer, bis auf den Grund, wo die Band ihren Eindruck bei mir hinterlässt.
Ich hoffe für Helga, dass sie den berüchtigten Rufen auf deutschen Festivals bald eine andere Bedeutung geben. Eine kulturelle Aneignung, die sein darf.
Sound dicht wie Teer: Oranssi Pazuzu
In der Umbaubause wuselt es geschäftig auf der Bühne herum. Schutzcover werden von Instrumenten abgezogen und man sieht schon jetzt, wie viel da auf einen zukommt: Die rechte Seite ist zugestellt mit Synths und Effektboards auf mehreren Etagen. Ein Blick nach links, klar, ein Synthesizer mehr ging noch! Man ist neugierig, nicht alle im Publikum kennen Oranssi Pazuzu, deren Name ob seiner Komplexität entweder schwer zu behalten ist, oder nur umso mehr ins Auge sticht.
Mit dieser Show bohrt sich die Band aber in so einige Ohren, das ist ab der ersten Minute klar:
Oranssi Pazuzu, das sind Experimente, an Amps gehaltene Gitarren, ein elektronischer Vrooooooom mit bluesigen Einlagen und der finnischen Sprache als Bonus-Rhythmuselement. Die Musiker sind in sich versunken, ohne einander aus Augen oder Ohren zu verlieren. Nach kleinen Bass-Gitarre-Duellen laufen Ontto und Ikon wieder an ihre Synths, regeln und drehen an Effekt-Settings und Stimmung. Ich liebe diesen abgedrehten Mix, in dem sogar solch klassische Pianoakkorde von Evill passen, einfach weil bei dieser Band alles geht! Manchmal scheint es, als sehe man bei einem intimen Jam zu, derart organisch wirkt das Ganze. In der Diskrepanz zwischen Drums in zähem Doom-Rhythmus und frenetischen Gitarren mag man leicht den Verstand verlieren, aber nie die Faszination – für mich der Idealzustand bei Livekonzerten experimenteller Bands! Um mich herum sind alle wie gebannt, keine einzige Konversation findet im Publikum statt. Nicht dass man die hören würde. Der Sound ist dicht wie Teer und gleichzeitig klar wie Kristall (am Mischpult steht Tom Brooke der Math-Rock-Band Nyos), und ich suhle mich mit geschlossenen Augen darin.
Dabei gibt es auch Hingucker! Das Lichtdesign ist mystisch in seinem Wechsel zwischen Grell und Dunkel und schmückt diese psychedelische Dimension weiter aus.
Sänger Jun-His formt mit seinen Händen kleine, choreographierte Gesten, die genauso mächtig sind wie der Gesamtsound der Band. Gleichzeitig strahlt er eine erstaunliche Ruhe aus. Was man von seinen Vocals nicht behaupten kann: all seine Energie ist in garstige Screams hineinkanalisiert, die Spuckpartikel glitzern im Scheinwerferlicht. Mein Stank Face erwidert diese Hingabe mit Anerkennung.
Gitarrist Ikon torkelt trunken vor Ekstase durch das Set und über die Bühne, Haare und instrumentenfreie Gliedmaße fliegen durch die Luft, dass es fast ein Wunder ist, dass niemand verletzt wird. Der Mann weiß seinen Musikrausch zu navigieren! Am Ende befreit er sich von seinem Gitarrengurt und kann sich scheinbar nur schwer zusammenreißen, sein Instrument nicht in die Ecke zu pfeffern. Jun-His sieht das lockerer, er feuert seine Elektrische vor die Drums, fixiert den Boden und bedeutet mit dem Arm den Schlusspaukenschlag.
Als dieses Loch in Raum und Zeit sich mit dem Ende der Performance wieder schließt und die Lichter wieder nach schnöder Realität aussehen, brummt der Saal vor beeindruckten Leuten: „Wow!“ und „Intensiv!“ höre ich’s hinter mir. Genug Gesprächsstoff für die nächsten 20 Minuten, und das ist auch ausreichend Zeit, um sich am Merch-Stand das im Oktober erschienene Album Muuntautuja zu holen.
Eine Träne für ein Plektrum: Sólstafir
Die Stimmung ist bereitet, Sólstafir werden von einem vollen Saal und einem herzlichen Beifall empfangen, an dem man hört, wie viel Sehnsucht nach dieser Band sich hier entlädt. Diese kommt mit Hin helga kvöl mit einem frisch veröffentlichten Album nach Paris, hat in der Setlist aber die Klassiker natürlich nicht vergessen, von denen Silfur-Refur das erste Highlight ist.
Sänger und Gitarrist Aðalbjörn Tryggvason performt mit großer Inbrunst, einer von den letzten elf Konzerten dieser Tour komplett unangeschlagenen Stimme und seinem unverwechselbaren, beinahe schluchzenden Gesangsstil. Als geborener Showman schlendert er von einem Ende der Bühne zum anderen, steigt auf Equipment und kommt so nah an den Bühnenrand, dass sich seine Schuh- und unsere Nasenspitzen in der ersten Reihe berühren könnten. Jedesmal, wenn er sich über uns beugt, verrenke ich mir fast das Genick, aber hey, Konzertverletzungen trägt man mit Stolz, und so nah ist man Bands schließlich nicht alle Tage! Bei alldem lächelt der Sänger mit einer entwaffnenden Offenheit und Schalk in den Augen direkt in unsere Gesichter.
Überhaupt ist das hier eine der gechilltesten Bands überhaupt. Bassist Svavar Austmann vapt in kleinen Pausen ein, zwei Züge, flachst bei einem Streifzug an den Bühnenrand mit dem Publikum und macht das Peace-Zeichen in ein paar Handykameras. Gitarrist Sæþór Maríus Sæþórsson tritt mit schwarzem Jackett, Hut und sicherem Saitenspiel genug als Bluesman auf, als dass er das sonst noch irgendwie beweisen müsste.
Vielleicht liegt es an der professionellen Routine durch jahrzehntelange Auftrittserfahrung, vielleicht sind das aber auch einfach nur richtig coole Typen, die schlichtweg lieben, was sie da mit uns teilen. Ich möchte Letzteres gerne etwas mehr glauben, denn diese Show fühlt sich nicht wie Routine an, sondern wie etwas ganz Besonderes. Tryggvasons Funke der guten Laune ist vom ersten Song an übergesprungen, doch beim Song Fjara lodern Herzen: Arme recken sich in die Luft und das Publikum braucht keine Isländischkenntnisse, um die Refrainmelodie mitzusingen. In diesem Song erfahren wir einen dieser kollektiven Momente voller Liebe und Magie, wie nur Liveshows sie zaubern können.
Mit kleinen Gesten an Fans macht Tryggvason diesen Abend für so einige unvergesslich: Einer Frau bedeutet er, ihre Hand zu öffnen, in die er ein Sólstafir-Gitarrenpick fallen lässt. In dieser gefühlsintensiven Atmosphäre lässt das ihr Tränenfass überlaufen. Bei dem Anblick bin ich sowas wie Kollateralschaden – I’m not crying, YOU’re crying! – und es ist wundervoll. Hier vibrieren wir alle auf derselben Frequenz, außer, wenn der Druck der Musik den Herzschlag durcheinanderwummert.
Die Menge geht mit allem mit, durch ruhige Songs, durch harte Songs, durch Schlendersongs wie Ótta, der auch wieder dermaßen mitreißt, dass von Singen keine Rede mehr sein kann; auf diesem High an Stimmung können wir nur noch grölen.
Mit einem offensichtlichen Augenzwinkern scherzt Tryggvason schließlich immer wieder „Thank you, good night!“ und hebt sein Ohr wiederholt in unsere Richtung. Dummerweise zeigen wir aber kein einziges Mal die angemessene Traurigkeit über dieses Signal – wir kennen das Spiel, die Band kennt das Spiel. Aber die Band spielt es anders: „Normally we would wait behind the stage for your applause, but we will stay with you and continue right away.“ Auf diese Nachricht folgt erst recht keine Traurigkeit. Meine Meinung am Rande: Zugaben verlieren an Bedeutung, wenn sie eingeplant sind. Lassen wir das Theater und bleiben wir authentisch!
Während des letzten Songs verteilt Tryggvason auf Knien von der Bühne heruntergebeugt nicht nur Plektren, sondern auch innige Umarmungen an die Menschen. Einen Teil von Goddess Of The Ages singt er, während er einen Fan bei der Hand hält.
Der Schlussapplaus ist voller Emotionen, welche die Band mit ausgebreiteten Armen entgegennimmt.
Wenn das Routine ist, hätte ich das gerne jeden Tag!