Artist: Gaerea
Herkunft: Porto, Portugal
Album: Coma
Spiellänge: 50:53 Minuten
Genre: Post Black Metal, Melodic Black Metal
Release: 25.10.2024
Label: Season of Mist
Link: https://www.gaerea.com/
Bandmitglieder:
Wir respektieren den Wunsch der Band, die Namen ihrer Mitglieder nicht zu nennen. Instrumental setzt sie sich zusammen aus:
Vocals, zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug.
Tracklist:
- The Poet’s Ballet
- Hope Shatters
- Suspended
- World Ablaze
- Coma
- Wilted Flower
- Reborn
- Shapeshifter
- Unknown
- Kingdom Of Thorns
Seitdem Gaerea begonnen haben, die Landschaft des Black Metal um ihren eigenen Sound zu erweitern und Purismus-Evangelikale gekonnt zu verprellen, sind einige Alben passiert. Nachdem ihre Bekanntheit mit Limbo (2020) in eine gute Höhe schnellte, schlugen sie mit ihrem Drittling Mirage (2022) klanglich eine feiner definierte Richtung ein, in die ihnen immer mehr Fans folgten. Die Band erhielt Ritterschläge in Form von Europa- und Nordamerika-Tourneen mit Gaahls Wyrd und Wolves In The Throne Room und sogar die äußerst rare Gelegenheit, sich als Headliner durch China und Taiwan zu spielen. Mittlerweile sind sie die weltweit Herrschenden über ihr Territorium des Cathartic Black Metal.
Ihr neues Album Coma dürfte ihnen nun weitere Fans herausfiltern, aber auch neue einbringen, denn sie führen ihre Rebellion konsequent weiter: mit einer bisher ungekannten Sanftheit.
The Poet’s Ballet streut zarte Synths wie Sternenschauer auf uns nieder und wowt mit einem verführerisch-traurigen Klargesang wie von der anderen Seite der Dimensionentür. Wenn Gaerea diese mit Verzweiflungsschrei und wilden Wirbeln an Tremolos aufstoßen, bricht eine Hölle los, deren sehnsuchtsvolle Gitarrenarrangements viel zu himmlisch sind, um nicht freiwillig darin sterben zu wollen.
Dagegen kündigt eine Elektrische im zweiten Track den brutalen Tod der Hoffnung mit einem Hauch von verspieltem Wahnsinn an, eine Bedrohung untermalt vom unheilvollen Grollen ihrer Partnerin und Drums, die den Pfad in die Finsternis mit frenetischen Blast Beats genauso planieren wie mit geschickten Drumfills. Im Rhythmus des Songs fällt es leicht, in die Zerstörungswut einzustimmen, dabei verleihen in die Textur eingewobene, düstere Chöre dem Ganzen eine Erhabenheit, welche jedes Vorgehen rechtfertigt. Ein süßer Moment des Trosts, gespendet von zwei verlassenen Gitarren, wird niedergeschlagen; wenn sich dieselben Riffs dann jedoch über den tosenden Black Metal hinwegsetzen, keimt im Song eine Ahnung: Vielleicht gibt es ja auch dann ein Danach, wenn Hope Shatters?
In Suspended packen die kraftvollen Akzente der Rhythmusgruppe und werfen uns in schier endlose Ströme aus Klang. Wie in der Schwebe tönt der wiegenliedhafte Trauergesang, von dem aus die Arrangements in die Erlösung zu führen scheinen – die Chöre sind feierlich, die Gitarren ekstatisch. Und genau darum ist die Plötzlichkeit, mit der dieser Track endet, noch schmerzlicher als bei anderen. Gaerea bleiben uns alles schuldig, bis auf die Erfüllung des Titelversprechens: die Spannung hält sich bis jenseits des letzten Tons. Dieser musikalische Kniff ist ebenso simpel wie geschickt, und deswegen auch so wirkungssicher!
World Ablaze ist nicht nur der kürzeste Song des Albums, sondern auch der mit den wenigsten Schnörkeln. In dieser Direktheit mag ein Gaerea’sches YOLO-Mindset liegen; inhaltlich geht es um einen Mann in Gefangenschaft, der weiß, dass der gloriose Tag seiner Begegnung mit der Welt auch der Tag seines Todes sein wird.
Gleichzeitig läuft der Track auch genau deswegen Gefahr, schnell wieder aus der Erinnerung zu fallen (Auskopplung als Single hin oder her). Er hat einfach nichts, was die anderen nicht auch haben, minus interessanter Aufhorcher. Der Sinn für Melodien zeigt sich in einer lauernden Gitarre, die aber auch problemlos das „Halloween“-Filmtheme ersetzen könnte, ohne dass es auffallen würde. Bei Dreieinhalb-Minuten weiß ich schon nicht mehr, was es in den 3:29 Min. sonst noch so gab.
Aufs Heftigste haut mich dagegen der Titeltrack mit seiner nicht nur im Dreivierteltakt walzenden Majestät um: Coma ist melodisch und stürmisch, gefährlich und tänzerisch, strukturell komplex und emotional rein. Er besitzt eine große Dynamik voller Behemoth-gleichem Bombast und eine mit ihrer Zartheit alles aufwertende, intensive Atmosphäre, durch deren Nebel die Gitarre zum Schöpfen von Hoffnung zusammenruft. Coma ist in einer Gemeinsamkeit mit dem Vorgänger World Ablaze sein umso schwerer wiegender Gegenbeweis: Er hat nichts, was die anderen Songs nicht auch haben – und macht doch alles anders. Großartig!
Große Traurigkeit transportiert Wilted Flower in dahinschreitendem Tempo und mehr in Richtung Ambient verschobenem Sound. Gitarren setzen ein wie sanfter Regen und verdichten sich mit den Synths zu einem Vorhang aus klingendem Licht, hinter dem die Verzweiflung vergebens versucht, sich brüllend Gehör zu verschaffen. Überhaupt sind in diesem Song alle emotionalen und technischen Facetten des Sängers vereint: Schreie des Leids, ein sterbendes Flüstern und eine simple Melodik im sachte anschwellenden Abschiedslied. Dieser balladenhafte Atmospheric/Melodic Black Metal ist zudem wieder ein überaus schönes Beispiel für das andere Gesicht der Blast Beats, die uns hier nicht umnieten, sondern mittragen.
Als akustisches Erdbeben kehren sie in Reborn zurück. Im absichtsvollen Chaos ist es, als würde die Unterwelt des Ichs aufgebrochen, und was dieser dröhnende Mönchsgesang auch immer aus ihr heraufbeschwört, die Ankunft wird von zitternden Gitarren in unheiliger Dissonanz gefeiert.
Gemächlich und kraftvoll braut sich Shapeshifter zusammen, während die Sechssaiterinnen wie Glocken zum Angriff schlagen. Mit der Attacke fliegen wir aus der Kurve in die Parallelwelt mit ihren fernen Synths und hell läutenden Gitarrenakzenten. Ein letztes Auflodern des Feuers unter schrillendem Alarm auf höchster Stufe, bevor wir in diese andere Welt zurückkehren, wo die Trauer der Glocken im Wind erstirbt. Dieser Song ist in seinen sechseinhalb Minuten episch gestaltet und kann qualitativ sehr gut für sich alleine stehen. Allerdings zaubern seine Elemente im Kontext des Albums an dessen achter Stelle keine Überraschungsmomente mehr. Leider.
Unknown und einladend ist der Weg, auf den uns eine unschuldige Akustikgitarre im vorletzten Song schickt. Mit ein wenig Groove der elektrischen kommt man leicht durch die Stürme hindurch und in kleine (mittlerweile vertraute) Ruheoasen. Das Highlight ist die letzte Minute: ein Wolkenbruch, der Reinigung bedeutet oder ein letztes Nein des Schicksals an die Bitte des suchenden Wanderers. Was auch immer das Gefühl – es ist intensiv!
Das Ohrwurm-Risiko der Riffs in Kingdom Of Thorns lässt mich willig den Kopf nach ihnen recken. Inmitten der Düsternis wirken sie geradezu freundlich und verspielt; dieser unerwartete Kontrast steht Gaerea sehr gut, denn sie wissen alles hervorragend zu timen und zu arrangieren, was auch für die verschiedenen Rhythmusabschnitte gilt.
Was auf Coma sofort hervorsticht, ist der geschärfte Fokus auf Melodik, und das nicht nur dann, wenn die Welt dem Ende entgegenrast, sondern auch, wenn die Zeit angehalten wird und die Gitarren alleine im Spotlight erklingen. Dabei geht dieses Licht von ihnen selbst aus: Die melancholischen Melodien sind durch ihre Schlichtheit, mitunter zu bloßen Klangakzenten im Ambiente der Synths reduziert, besonders rein und reinigend – kleine Rettungsinseln inmitten des rauschhaften Black Metal und Lyrics, die den Rahmen vom Zwielicht zur Hoffnungslosigkeit spannen:
Welten kollidieren, ebenso Wahlmöglichkeiten. Mit der Verzweiflung und dem Abdriften in was auch immer jenseits davon liegt kommt die Frage nach dem Unterschied zwischen Aufgabe und Hingabe auf. Was ist Freiheit? Und wie verliert man sich auf der Suche nach sich selbst?
Kurz: Coma ist kein Schrei nach Satan, sondern ein Kampf mit viel beängstigenderen Dämonen. Laut Vocalist sind Gaereas Werke wie Filmskripte zu Episoden aus den Leben verschiedener, realer Menschen mit sehr abgründigen, realen Emotionen.
Diese sind musikalisch intensiv dargestellt, aber – und damit komme ich zum großen Wermutstropfen des Albums – leider oft schwer voneinander zu unterscheiden. Es fehlt bei all den thematisierten inneren und äußeren Konflikten doch an der sich dabei anbietenden Abwechslung (In welchem Aspekt? Ja!) und denkwürdigen Momenten; auffälligere Markierungen der verschiedenen Punkte in den einzelnen Narrativen; ein paar Spannungsfelder mehr als nur im – obgleich stets gelungenen! – harten Schnitt zwischen einerseits jenen atmosphärischen Synths und Gitarren, die im Auge des Sturms die Einsamkeit der menschlichen Erfahrung besingen, und dem Tornado des Black Metal andererseits. Und so unwiderstehlich ein solistisches Gitarrenintro auch ist … müssen ganze neun von zehn Songs damit beginnen?
Diese melodische Eingängigkeit und auch der überraschende Klargesang sind im Sound von Gaerea sehr willkommene Neuerungen (sogar eine konsequente Weiterentwicklung der Magie des 2022er Mirage), die ihren Post Black Metal um einiges zugänglicher machen! Doch alles Neue verliert seinen Charakter, wenn das Rezept immer das gleiche ist.
So hat sich die Band (trotz Wechsel im Line-up) eigentlich nicht grundlegend verändert; Tempi sowie Stimmung sind im Großen und Ganzen recht konstant aufwühlend, was eine weitere Steigerung schlichtweg schwierig macht. Manche vermögen es, auf einer fünfzigminütigen Welle der Katharsis zu reiten und haben das High ihres Lebens, ich stumpfe irgendwann doch ein wenig ab, fühle mich abschnittweise eher berieselt als mitgerissen. Coma schafft es nicht immer, meine Aufmerksamkeit zu halten.
Statt aufzugeben schüttle ich mich jedoch lieber und fahre meine Aufmerksamkeit neu hoch, schließlich will ich von der unbestreitbaren Kunstfertigkeit der musizierenden Hände und der feinen Ästhetik auch nichts verpassen!
Darum: Falls es aus ähnlichen Gründen nicht gleich klickt, empfehle ich einen Genuss in Häppchen und/oder mehreren Durchgängen, denn Gaerea haben etwas kreiert, das es definitiv zu durchgraben wert ist! Der abstruse Wahn des Menschseins ist mitunter nun einmal anstrengende Arbeit. Selbst wenn die Gründe dafür interessantere sein könnten.
Bei vergangenen Alben ging es mir ähnlich – völlig anders dagegen während der Live-Auftritte der Band! Der konzeptuell-visuelle Aspekt von Gaerea und ihre Mark und Bein erschütternde Bühnenperformance sind als Komponenten der Musik nicht zu unterschätzen. Das heißt nicht, dass letztere nicht für sich stehen kann, sondern lediglich, dass die Band mit ihrer Vortex Society eben auch eine Identifikationsmöglichkeit bietet, und mit Asmoday-Siegel und Masken (neben hohem Wiedererkennungswert) Mysterium und Projektionsflächen schafft – und damit ein monolithisches Gesamtkunstwerk.
Gaerea haben ihre Bühnen mehr als verdient und tun das auch weiterhin – ab Ende November 2024 sind sie zusammen mit Zetra und Zeal & Ardor auf ausgedehnter Tournee in Nordamerika, im April 2025 als Headliner in Deutschland und Skandinavien unterwegs.