Eventname: October Frost Tour 2024
Headliner: Hexvessel
Special Guests: Sum Of R
Ort: Backstage By The Mill, Paris, Frankreich
Datum: 26.10.2024
Ticketpreis: 24,60 € VK, 23 € als graphisch aufbereitetes Karton-Ticket, 26 € AK
Genre: Folk, Psychedelic, Black Metal, Doom, Drone, Krautrock
Besuchende: < 100
Veranstalter: Swamp Booking & Garmonbozia (http://www.garmonbozia-inc.com/)
Link: https://www.backstage-btm.com/agenda/hexvessel/
Setliste Hexvessel:
- Black Mountain Poet
- The Tundra Is Awake
- Listen To The River
- Eternal Meadow
- Crepuscular Creatures
- Phaedra
- Older Than The Gods
- Spirit Masked Wolf
- Ring
- Under The Lake
- A Cabin In Montana
- Homeward Polar Spirit
Zugabe:
- Halloween
Es ist Samstagabend in Paris. Aber es ist auch Herbst, das Wetter entsprechend, und die Pariser und Pariserinnen von den touristischen Horden möglicherweise zu abgeschreckt, um sich in das Viertel rundum das Moulin Rouge zu begeben, und jene touristischen Horden ihrerseits zu abgelenkt von der abgedroschenen roten Mühle, um das Irish Pub O‘Sullivans direkt daneben zu bemerken. Oder das Abendprogramm im dahinter versteckten 350-Leute-Konzertsaal ist einfach zu nischig, um Menschenströme anzulocken.
Mir ist das eigentlich ganz recht. Das Backstage By The Mill ist eines DER Club-Venues, das neben den gelegentlichen Folk- und Indie-Pop-Bands vor allem das Metal- und Rock-Publikum von Paris versorgt. Und weil Paris Paris ist, tingelt hier alles durch und gleichzeitig nichts, das nicht qualitativ exquisit und hochinteressant ist. Ich hatte hier noch kein einziges schlechtes Konzert, aber vielleicht bin ich auch nicht objektiv, denn die Leute an Bar, Eingang und von der Security sind allesamt übernett im authentischen Sinne. Es herrscht ein Hauch von DIY-Vibes, denn alle tun ihr Bestes, damit Reibungen ausbleiben, und sind locker genug, dass man das Gefühl hat, mit Menschen zu reden, nicht Dienstleistenden.
So auch heute Abend!
19 Uhr soll Einlass sein, aber um die Zeit ist noch das rote Absperrband vor der Tür und niemand da. Zusammen mit den anderen fünf Geduldigen um mich warte ich, bis jemand mit Ticketscanner auftaucht und uns nett und rasch reinlässt. Da wir den Herrn schon die ganze Zeit in Sachen Backline-Schufterei haben rein- und rauslaufen sehen, stört sich absolut niemand an der Verspätung. Man weiß: Alle Mitwirkenden tun ihr Bestes, und das mit Herzblut!
Drinnen gesellen sich langsam mehr Leute dazu, ich sehe T-Shirts von den den heutigen Bands artverwandten Maudits und Mütterlein. Hexvessel sind bereits Nische, Sum Of R sogar noch mehr, und so haben auch nur die den Konzertruf gehört, deren Gehörgänge etwas anders verkabelt sind.
Wie speziell es heute allerdings ist, das wird bei der Band Sum Of R besonders deutlich. Wo mir vorher ein kleines Publikum noch lieb war, bin ich mit dem Anstieg von 20 auf gerade mal 50 Leute während ihres großartigen Sets an dronigem Kraut-Doom quasi wehleidig by proxy. Ich habe lange gewartet, um Sum Of R endlich live zu sehen, und hätte gerne, dass mehr Leute von dieser faszinierenden Band wissen!
Wo keine Menschen stehen, ist der Raum erfüllt von Reto Mäders dumpfem Bass und Marko Neumanns Vocals der tausend Persönlichkeiten – der Typ hat vier Mikros, schnappt sich oft zwei gleichzeitig, und singt, spricht und krächzt aus den Tiefen seiner Seele. Seine Körpersprache ist bei sich, dabei aber alles andere als introvertiert; das Gesicht verbirgt sich – mit großer Wirkung! – hinter seiner Mähne, kleine und bestimmende Handbewegungen sowie große Gesten im Zusammensinken an den intensivsten Stellen bestimmen seine Performance. Er hat etwas Außerirdisches, was ihn neben seiner Stimme zum Blickfang der Bühne macht. Ansonsten bedient er sich mit professioneller Leichtigkeit seines Effektboards. Auch Mäder hat, zusätzlich zu seinen vielen Pedals und dem Keyboard auf dem Boden, eines auf seinem Tisch. Kratzende Soundeffekte, Loops und Echos verdicken die Atmosphäre, der Doom hängt über unseren Köpfen, genau wie ich es mir erhofft hatte. Da die Band erst seit ihrem letzten Album einen Sänger hat, besteht die Setlist hauptsächlich aus Stücken von Lahbryce. (Ich habe am Ende des Abends drei Crew-Leute inklusive FOH um die Setlist angehauen, leider hatte sie niemand.) Die Stimmung wie in den Tiefen des Universums ist ungebrochen, auch weil die Band die Musik für sich sprechen lässt, statt selbst ein Wort zu ergreifen, das sich außerhalb der Songs befindet. Auch Gelegenheiten für Applaus seitens des hypnotisierten Publikums gibt es nicht, es ist alles wie ein langes Ambient-Stück. Nach ca. 45 Minuten wird das Ende durch Marko Neumann als Höhepunkt markiert. Er löst sich mit einem Mikro von seinem Board, geht an den Bühnenrand, und sucht die Nähe zum Publikum, legt seine Hand auf Köpfe und schreit mir mit Inbrunst ins Gesicht. Ich liebe diese Art Nähe zu Musikschaffenden, das hat besonders im Kontext solcher Musik etwas Heiliges. Ich bin dankbar, wenn man mich so mit hineinholt. Da darf man mich auch gerne anbrüllen.
Die Umbaupause ist kurzweilig, das Licht wird noch dunkler, als es in diesem Saal eh schon ist, in Umhängen und Kapuzen betreten Hexvessel die Bühne. Psychedelischer Folk-Black-Metal ist die richtige Beschreibung für diese Band, und der Abholpunkt zwischen dem Sound von Sum Of R und dem von Hexvessel liegt eindeutig in der Atmosphäre. Es gibt aber auch eine konkrete Schnittstelle: Drummer Jukka Rämänen schlägt auf dieser Tour Doppelschichten, denn er ist in beiden Bands (sowie zusammen mit Marko Neumann in Dark Buddha Rising und Waste Of Space Orchestra, letzterer ist wiederum mit Reto Mäder durch die Band Ural Umbo bekannt).
Hexvessel haben erst mit dem letzten Album eine Stilkurve in Richtung Black Metal genommen, die sie offensichtlich auf einen neuen Weg führt, und so hören wir jeden einzelnen Song des 2023er Albums Polar Veil.
Die mittlerweile ca. 100 Menschen hören andächtig zu, aber das verzerrte Gitarren-Intro des zweiten Songs The Tundra Is Awake ist für viele so ikonisch, dass sie sich in der Menge mit Jubel als große Fans zu erkennen geben. Live stellt sich ja meist heraus, wie viele Songs oder Leads sich so von einem Album ins Hirn brennen können, und diese hohe Wiedererkennung zaubert Lächeln in Gesichter und macht warm ums Herz! Es weht kein tödlicher Black-Metal-Blizzard, die Gitarren sind Träger und Treiber der Songs oder bringen mit Synths und Vocals selbst verträumte Melodien in eine verschneite Landschaft in der Nacht. Der Corpse-Paint ist in passender Anlehnung uminterpretiert und schimmert wie Schnee in der Sonne. Es ist alles stimmig!
Von dem, was Black Metal ist oder zu sein hat, spricht auch Bandleader Mat McNerney in einer seiner kurzen, aber prägnanten Ansprachen:
„Black Metal is not about being the most brutal. It’s a feeling, it’s mysticism, a search for something better. A search for something Older Than The Gods.“
In ihrem eigenen Ausdruck des Genres ist die Band genauso nahbar und auf Tiefe aus wie in ihrer Bühnenpräsenz. Wiegende Bewegungen, geschlossene Augen, kleine Geschichten zwischen und zu den Songs. Ring ist inspiriert von der finnischen Redensart „in den Wald gehen“, aber ohne eine Wiederkehr weitergedacht. A Cabin In Montana ist das Resultat einer Konversation zwischen McNerney und einem Mann namens Ted, mit dem er über die wahre Bedeutung von Freiheit sprach; wie kannst du frei sein, wenn ein anderer dir deine Freiheit diktiert? Ich erschaudere, als die Leute mit erhobenen Fäusten in die Freedom-Rufe einstimmen. Eine Identitätsfrage – Bist du ein Stadtmensch oder ein Naturmensch? –, gestellt von einem Schamanen, steckt im Kern des Songs Homeward Polar Spirit.
McNerney singt die Songs mit einer Troubadour-Stimme, die selbst in den Höhen wie geölt klingt. Beeindruckt bin ich ebenso von dem Facettenreichtum von nicht Multi-, sondern gefühltem Millioneninstrumentalist (und Filmkomponist!) Kimmo Helén, der sich mit Leichtigkeit zwischen Gitarrensoli, Keyboard-Einlagen und Backing-Vocals bewegt. In all dieser schier greifbaren Spiritualität wird die Magie der Performance nicht vergessen, verkörpert durch Bassist Ville Hakonen mit seinen beschwörenden Posen und mitgestaltet durch dezentes, an- und abschwellendes Lichtdesign.
Neben dem letzten Album spielt die Band auch aktuelle Veröffentlichungen sowie ein Stück, das erst auf dem nächstjährigen (!) neuen Album sein wird: Spirit Masked Wolf. Ein kleiner Seelenstreichler für die treuen Fans!
Nach dem Abgang von der Bühne kehrt McNerney zunächst alleine für eine Zugabe zurück und beginnt das Misfits-Cover Halloween ganz intim a-cappella, bis seine Bandkollegen ein letztes Mal hinzustoßen, um das Publikum gemeinsam zu bezaubern. Es ist ein wundervoller Move, die Leute mit dieser Stimmung aus einem Konzert gehen zu lassen.
Allerdings gehen nicht alle. Die wenigen, die am Merch-Stand im hinteren Teil des Saals warten, schauen und kaufen, werden von McNerney selbst empfangen. Die Band kommt hinzu und nimmt sich genug Zeit, um die Liebe der Fans in Autogrammen und Gesprächen zurückzugeben.
Danke den Bands und der Crew für einen gelungenen Abend, ich freue mich auf zukünftige!