Whitechapel – Kin

Metamorphose abgeschlossen

Artist: Whitechapel

Herkunft: Knoxville, Tennessee, USA

Album: Kin

Spiellänge: 47:55 Minuten

Genre: Metalcore, Deathcore, Modern Death Metal, Progressive Metal, Alternative Rock

Release: 29.10.2021

Label: Metal Blade Records

Link: https://www.facebook.com/whitechapelband

Bandmitglieder:

Gesang – Phil Bozeman
Gitarre – Ben Savage
Gitarre – Alex Wade
Gitarre – Zach Householder
Bassgitarre – Gabe Crisp
Schlagzeug – Alex Rüdinger

Tracklist:

  1. I Will Find You
  2. Lost Boy
  3. A Bloodsoaked Symphony
  4. Anticure
  5. The Ones That Made Us
  6. History Is Silent
  7. To The Wolves
  8. Orphan
  9. Without You
  10. Without Us
  11. Kin

Was für eine unfassbare Entwicklung hat der Sound von Whitechapel seit dem ersten Album The Somatic Defilement genommen? Die Anfänge wurden passend zum namensgebenden Londoner Stadtteil noch Jack The Ripper gewidmet und offenbarten einen erbarmungslosen Mix aus Deathcore und Deathgrind. Die schleichende Metamorphose begann 2016 mit dem gefeierten Mark Of The Blade und der Hinzunahme von Cleanvocals. Das erweiterte Genre-Spektrum fand 2019 im abwechslungsreichen The Valley seinen vorläufigen Höhepunkt. Dieses Album vergrößerte schlagartig die Fanschar der Amerikaner, wenngleich einige Anhänger der ersten Stunde abwanderten. Nun wird die Geschichte der traumatischen Kindheit von Sänger Phil Bozeman auf dem neuesten Werk namens Kin weitergeführt.

Phil Bozeman geriet erstmals 2012 in meinen Fokus. Damals bot der auf der Mitch Lucker Memorial Show eine unmenschliche Leistung im Song Unanswered und würdigte somit das Andenken des verstorbenen Suicide Silence Sängers auf unnachahmliche Art und Weise. Die beiderseits starken Growls und Cleanvocals machten ihn in den letzten Jahren zu einem der besten Sänger der Szene. Können die Südstaatler ihren Status mit Kin noch weiter ausbauen?

Die Gitarren zu Beginn des Openers I Will Find You versprühen tatsächlich kurzzeitig den Südstaaten-Flair ihrer Heimat Knoxville. Dieses Gefühl hält jedoch nicht lange vor. Passend zum lyrischen Hauptthema des letzten Albums knüpft Phil Bozeman an den Text des schließenden The Valley Songs Doom Woods an: Hieß es dort in den letzten Zeilen noch „The devil is alive“ so begrüßt der Shouter den Hörer mit einem bösartigen „The devil is deeeeaaaaaad“. Die Entwicklung des Songwritings ist unüberhörbar und passt hervorragend zur Leistung am Mikro. Spoiler-Alarm: Phil Bozeman zeigt auf Kin die wohl stärkste Vocalperformance seiner Karriere – „mark my words…“ Thrashriffs und Modern Metal gehen Hand in Hand. Die Growls sind überragend und dann folgt ein verträumter Teil mit Klargesang, der beweist, dass Mr. Bozeman in den letzten Jahren hart für dieses Ergebnis gearbeitet hat. Was für ein Einstieg!

Lost Boy lässt sich diese Leistung nicht bieten und legt amtlich nach. Moderne, gefrickelte Death-Metal-Passagen mit schnell abgeschossenen Giftpfeilen aus dem Mund des Sängers fräsen sich durch meine Kopfhörer. Der leicht progressiv angehauchte Mittelteil driftet sogar kurz in Tool-Gefilde ab. Wem Whitechapel in ihren Anfangstagen zu berechenbar waren, der sollte mit diesem Song in die bunte neue Welt der Band eintauchen. Hier kommen trotz des höheren Melodiefaktors keinerlei zuckersüße Spielereien auf, wie man es von anderen Abtrünnigen des Genres gewohnt ist. Whitechapel klingen anders, aber immer noch aggressiv. Diese Aussage wird A Bloodsoaked Symphony sogleich untermauern. Dieser Titel dürfte die Fortsetzung von Brimstone aus dem Vorgänger sein. Ein schleichender Aufbau wiegt den Hörer zunächst in Sicherheit, nur um dann mit „Chops from hell“ auf der Gitarre zu kontern. Phil geht gesanglich in den Keller und verleiht dem aufwühlenden Inhalt die richtige Stimmung: „Mother, father come back to me.“ Wem diese Zeilen im dazugehörigen Video nicht unter die Haut gehen, der hat wohl im Eisschrank geschlafen.

Anticure schlägt deutlich ruhigere Töne an und dreht das Rad in Richtung Alternative Rock. Dazu passt die warme Stimmlage, die nur von Zeit zu Zeit die Pforte zur Hölle öffnet. Durch diesen Kontrast wird der Spannungsbogen aufrechterhalten und das Sextett macht nicht den Fehler, zu viel Weichspüler hinzuzugeben. Zum Groove der Instrumentalfraktion in The Ones That Made Us möchte man mit mächtigen Schritten durch die Wohnung stampfen, wie einst Godzilla durch Tokio. Die abgehackten Riffs zu unterschwelligen Blastbeats werden durch eine gekonnte Melodie angereichert. Wofür hat man schließlich drei Gitarristen?

Mit History Of Silent gehen Whitechapel zunächst wieder emotionale Pfade, nur um dann in die Abgründe der Seele zu schauen. Den „Two-Face“ Gesang beherrscht Phil mittlerweile in Perfektion. Dieser bedrückende Unterton passt so gut zum Kontext und lässt die Band im Kreis der ganz Großen mitspielen. So gut sie auch anfangs schon waren, diese Evolution zeugt von wahrer Hingabe und harter Arbeit. Es wird wieder Zeit, den Knüppel aus dem Sack zu holen. Bevor die Melancholie die Überhand gewinnt, schlägt To The Wolves unbarmherzig zu. Die vertrackten Akkordfolgen machen einen Progger wie mich natürlich glücklich. Die Nummer findet den richtigen Kompromiss zwischen rasender Wut, technischer Finesse und gefühlvollen Arrangements.

Orphan sorgte mit seiner Veröffentlichung vor wenigen Tagen für Aufsehen. Lernten Fans die gefühlsbetonte Seite der Amerikaner bereits auf den letzten Alben kurzzeitig kennen, so reiten Whitechapel dieses Pferd nun so ausgiebig wie nie zuvor. Phil Bozeman zeigt den ganzen Stimmumfang seiner Cleans und die Soli sind unverschämt rockig und stimmig, sodass man schon genau hinhören muss, mit wem man es hier zu tun hat. Den Titel hätte ich mit verbundenen Augen wohl eher Stone Sour oder ähnlichen Bands zugeordnet.

Without You heißt das kurze, akustische Intro zum nächsten Titel Without Us. Die Gitarren gehen wieder „Six feet deep“ und zeigt wieder einmal das starke neue Gesicht auf Kin. Wenn Whitechapel mit beiden Extremen jonglieren, hinterlassen sie für mich den besten Eindruck. Fiese Schreie legen sich über harmonische Gitarrenmelodien und setzen sich im Gedächtnis fest. Die knapp 50 Minuten Spielzeit kommen schon zum Ende, ohne dass ich einen Anflug von Langeweile verspüre. Das ist ein gutes Zeichen. Der Titelsong markiert das letzte Kapitel. Kin ist ähnlich konzipiert wie Orphan. Langsam steigert sich der akustische Aufbau mit ruhigem Gesang über erneut schöne Gitarrensoli zu einem effektvollen Finale.

Whitechapel – Kin
Fazit
Whitechapel haben auf Kin endgültig ihren Sound gefunden. War der Weg von brachialem Deathcore hin zu kleineren Experimenten auf Mark Of The Blade eher zaghaft, so können The Valley und eben Kin als Aufbruch in eine neue Ära angesehen werden. Immer noch Death, immer noch Core, aber gespickt mit progressiven und alternativen Elementen. Über dem nochmals verbesserten Songwriting thront der variable Gesang von Phil Bozeman, der mit dieser Leistung nahezu ohne Konkurrenz dasteht. Aufgeschlossene Death Metal und Core-Jünger sollten die „neuen“ Whitechapel unbedingt antesten.

Anspieltipps: I Will Find You, Lost Boy und Without Us
Florian W.
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