Opeth – The Last Will And Testament

Zurück zu den Wurzeln oder auf zu neuen Ufern?

Artist: Opeth

Herkunft: Schweden

Album: The Last Will And Testament

Spiellänge: 50:52 Minuten

Genre: Progressive Metal, Death Metal

Release: 22.11.2024

Label: Reigning Phoenix Music

Link: http://www.opeth.com

Bandmitglieder:

Gesang und Gitarre – Mikael Åkerfeldt
Gitarre und Hintergrundgesang – Fredrik Åkesson
Keyboard und Hintergrundgesang – Joakim Svalberg
Schlagzeug – Waltteri Väyrynen
Bass – Martín Méndez

Gastmusiker:

Sprecher und Flöte – Ian Anderson (Jethro Tull)
Hintergrundgesang – Joey Tempest (Europe)
Sprecherin – Mirjam Åkerfeldt

Tracklist:

  1. §1
  2. §2
  3. §3
  4. §4
  5. §5
  6. §6
  7. §7
  8. A Story Never Told

Es gibt Bands, die sind zum einen so etwas wie ein ständiger Begleiter und zum anderen wie eine gute Flasche Wein, die man zu einem besonderen Anlass öffnet. Opeth gehören zu dieser Kategorie. Die Schweden begleiten mich musikalisch seit über 20 Jahren und haben immer eine Sonderstellung in meiner Sammlung eingenommen. Opeth-Songs landen bei mir nicht willkürlich in irgendwelchen Playlists. Nein, die Musik wird stets an dunklen Herbst- und Wintertagen als physischer Tonträger unter dem Kopfhörer zelebriert. Egal, ob puristische Frühwerke wie My Arms, Your Hearse, Großtaten à la Blackwater Park und Ghost Reveries oder Retro-Prog-Abfahrten wie Pale Communion und Sorceress; in jeder Schaffensphase der Band konnte ich mein Glück finden. Eine kleine Ausnahme bildet das 2019 erschienene Werk aus der Feder von Mastermind Mikael Åkerfeldt: In Cauda Venenum ist bei mir bis heute nicht „angekommen“. Funfact: In Zeiten, als man noch nicht jeden Songtext via Streaming mitlesen oder aus dem Netz downloaden konnte, hatte ich meine liebsten Opeth-Lyrics fein säuberlich aus den CD-Booklets abgeschrieben und abgeheftet. Der Ordner steht noch immer in meinem Regal.

Der November geizt mit Sonnenlicht, da kommt das 14. Opeth-Studioalbum namens The Last Will And Testament wie gerufen. Die Story, die sich Songwriter und Texter Mikael Åkerfeldt dafür ausgedacht hat, hätte die britische Schriftstellerin Agatha Christie nicht besser zu Papier bringen können: The Last Will And Testament ist ein Konzeptalbum, das die Hörerschaft in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückversetzt. Es erzählt die Geschichte eines wohlhabenden, konservativen Patriarchen, dessen letzter Wille bzw. dessen Testament schockierende Familiengeheimnisse zutage bringt“, heißt es im Promo-Schreiben. So warten Verdächtigungen, Wendungen und letztendlich auch Geständnisse auf den Hörer. Apropos Hörer: Es verging gefühlt kein Tag ohne den lauten „Bring back the growls“ Ruf der Internet-Trolle seit Åkerfeldts Abkehr von Harsh Vocals vor ca. 16 Jahren. Dabei haben Opeth schon immer gemacht, worauf sie Bock hatten und bilden schon fast ein Genre für sich. Umso lauter war der Aufschrei Anfang August als §1 als Single MIT Growls erschien. Der Messias ist zurück. Alles vergeben und vergessen? Ach, lassen wir das. Würden Opeth nur noch auf ihre Fans hören, wären sie wohl bald belanglos und austauschbar. Also, Vorhänge zu, Kopfhörer auf und ab geht die wilde Paragrafenreiterei. Das erste Konzeptalbum seit Still Life (1999) wartet auf mich.

Bis auf den letzten Song gibt es hier keine eigentlichen Songtitel zu sehen, sondern die Paragrafen 1 bis 7. Die Handlung baut sich nach der Verlesung des Testaments auf. Doch zunächst einmal fällt mir die „kurze“ Spielzeit von knapp über 50 Minuten auf. Tatsächlich markiert das neueste Werk das „kürzeste“ Album in der Bandgeschichte nach Damnation. Wer jetzt denkt, dass es dadurch weniger komplex zugeht, der hat sich soeben am Papier des Testaments geschnitten. Nach dem Betreten des Zimmers, in dem die Aristokraten-Familie auf die Verlesung des Testaments wartet, geht es gleich mit fesselnden Bassläufen und ungeraden Drumpatterns in die Vollen. Die Kunst der Jungs, starke Riffs aus dem Hut zu zaubern, kennen Opeth-Fans bereits. Was mich dabei fasziniert, ist die Tatsache, dass diese eben nicht, wie in modernen Metalgenres üblich, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden. Åkerfeldts eindringliche Gesangsstimme wechselt sich mit dämonischen Growls ab und wird dabei von der schaurigen Stimme seiner jüngsten Tochter Mirjam begleitet. Als Sprecher ist kein Geringerer als Jethro-Tull-Legende Ian Anderson zu hören. Im Verlauf des Albums packt er auch noch seine Querflöte aus. Wie ein Szenenwechsel wirkt die Stimmung gegen Ende des Liedes, die durch das Orchesterarrangement gekonnt transportiert wird.

Photo by Terhi Ylimäinen

Ein Rhodes-Piano untermalt den zweiten Abschnitt. Die Gesangsharmonien steuert Joey Tempest von Europe bei. Gemeinsam mit Andersons Spoken Words und Åkerfeldts Growls entsteht kurzzeitig etwas Unruhe. Doch Opeth wären nicht Opeth, wenn sie nicht blitzschnell wieder in diesen „Kerzenschein und Kuscheldecke“-Modus schalten könnten. Alles unter der Prämisse, dem Hörer jederzeit wieder Schauer über den Rücken jagen zu können, versteht sich.

In §3 muss einfach Waltteri Väyrynen erwähnt werden. Dieser wechselte 2022 von Paradise Lost zu Opeth und ist erstmals auf einem Studioalbum der Band zu hören. Zugegeben war ich etwas enttäuscht, als Opeth vor drei Jahren den Ausstieg von Martin „Axe“ Axenrot bekannt gaben. Ich bin schon ein Fan des langjährigen Drummers. Doch Walt tröstet mich mit seinen herausragenden Skills darüber hinweg. Der junge Finne ist für Opeth ein echter Steal. Die zahlreichen dramaturgischen Wendungen fundamentiert der Drummer wahlweise mit jazzigen Parts, metallischer Keule oder zurückhaltenden Percussions. Hier passiert so viel, dass ich nur den Hut vor Produzent Stefan Boman (Hammerthorpe Studios) ziehen kann. Auch das Mastering von Miles Showell in den legendären Abbey Road Studios darf nicht unerwähnt bleiben. Viel besser kann eine Produktion nicht klingen.

§4 oder „The many voices of Mikael Åkerfeldt“: Wie bei den Beatles werden hier unzählige Gesangsstimmen zusammengepuzzelt. Nur ohne Pilzköpfe, dafür mit Harsh Vocals. Der eigentliche Star des siebenminütigen Stücks ist aber das Break im Mittelteil. Ein Harfensolo, Andersons magischer Flötenzauber und on top unendlich tighte Bassgrooves von Señor Mendez. Anschließend leiten 70er-Jahre Horrorsounds Opeth-typische Riff-Attacken nebst polyrhythmischem Drumming ein. Fetzt!

Achtung! Es folgt eine Liebeserklärung an einen Paragrafen: Dass ich diesen Satz mal schreibe, hätte ich auch nicht für möglich gehalten. Wo soll ich anfangen? Die gesamte Einleitung mit ihren irrwitzigen Drum- und Bassläufen, den „Rufen“ aus der Ferne sowie Mikaels warmem Timbre sind zum Niederknien. Das darauffolgende Händeklatschen erinnert erneut an die Beatles und was kommt dann? Natürlich arabeske Melodien sowie heftige Growl-Attacken. Was auch sonst? Bei jedem Durchlauf entdecke ich neue Details, die die Hingabe des Texters und Songwriters Mikael Åkerfeldt und seiner Mannschaft unterstreichen.

Deutlich melodischer und auch rockiger kommt §6 um die Ecke. Die Hammondorgel dröhnt und bringt Reminiszenzen an Deep Purple bzw. Rainbow mit. Der bisher nicht erwähnte Keyboarder Joakim Svalberg darf sich nach Herzenslust austoben und duelliert sich mit Gitarrist Fredrik Åkesson. Dann war da noch ein junger finnischer Drummer namens Waltteri Väyrynen. Was ist los mit diesem Jungen? In wenigen Minuten lässt er die älteren Kollegen noch älter aussehen und spielt sich in den Olymp. Von oben grüßt auch die Stimme des Sängers, der wie in einer Traumsequenz klingt. Sobald das Album auf dem Markt ist, muss ich unbedingt die Texte studieren, was natürlich hilft, der Handlung besser zu folgen. Schön oldschool, mit dem Booklet in der Hand der Musik lauschen.

Nach dieser beschwingten Auszeit wird die Stimmung wieder deutlich gedrückter. Gesprochene Sequenzen werden von zurückhaltender Instrumentierung begleitet. Leichte Disharmonie übernimmt kurzerhand das Zepter, ehe wieder lässig gegroovt wird. „I am Iconoclast“ brodelt es wie aus einem Vulkan aus Åkerfeldt bzw. dem Patriarchen heraus. Die abgehackten Rhythmen kennen Opeth-Freunde nur zu gut und als Kontrast zum eben Gehörten wird eine sanfte Chorpassage eingestreut. Apropos Kontrast: Wie auf früheren Alben darf auch eine waschechte Ballade nicht fehlen. A Story Never Told markiert nicht nur den einzigen „echten“ Titel auf The Last Will And Testament, sondern auch den melancholischen Schlussakt dieses spannenden neuen Opeth-Werks.

Opeth – The Last Will And Testament
Fazit
The Last Will And Testament ist ein Paradoxon: Ja, die Growls sind zurück und dennoch haben wir es keineswegs mit „alten Opeth“ der Marke Blackwater Park oder Still Life zu tun. Ja, der progressive Faktor ist enorm hoch und dennoch wirken sämtliche Arrangements stimmig und können nicht ohne Weiteres mit der Retro-Prog-Phase der Band verglichen werden. Mikael Åkerfeldt liefert seine bisher stärkste Gesangsleistung ab, wird begleitet von treuen Weggefährten und hat obendrein ein neues Schlagzeug-Ass im Ärmel. Vorausgesetzt man nimmt sich die nötige Zeit für zusätzliche Durchläufe – denn die benötigt das 14. Studioalbum der Schweden unbedingt – bekommt man ein großartiges musikalisches und lyrisches Konzept serviert, welches der ohnehin großartigen Diskografie der Band ein weiteres fesselndes Kapitel hinzufügt.

Anspieltipps: Aufgrund des Konzepts am besten als Ganzes hören. Wer trotzdem erst mal einen Überblick benötigt, dem seien die Paragrafen 3 bis 5 ans Herz gelegt.
Florian W.
9.2
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