Eventname: Wardruna – World Tour 2024/2025
Headliner: Wardruna
Special Guest: Jo Quail
Ort: Salle Pleyel, Paris, Frankreich
Datum: 09.11.2024
Ticketpreis: 27,50 € – 82,50 € (Steh- und Sitzplätze, fünf verschiedene Kategorien)
Genre: Nordic Folk, Neofolk, Neoklassik, Post Rock
Besuchende: ca. 2.500
Veranstalter: Garmonbozia
Link: https://www.sallepleyel.com/evenement/wardruna/
Setliste von Wardruna:
- Kvitravn
- Skugge
- Solringen
- Hertan
- Kvit hjort
- Lyfjaberg
- Voluspá
- Tyr
- Isa
- Grá
- Runaljod
- Rotlaust tre fell
- Fehu
Erste Zugabe:
- Helvegen
Zweite Zugabe:
- Snake Pit Poetry
„We need to come back here more often!“ Was Einar Selviks Abschlussworte des Abends werden sollen, beschreibt genau die Stimmung, die noch vor Beginn dieses ausverkauften Konzertabends in der Salle Pleyel herrscht. Und vor der Salle Pleyel. Und um die Salle Pleyel herum. Ich komme 45 Minuten vor Konzertbeginn an und sehe die Leute hunderte von Metern um Ecken in der Schlange stehen – die ersten Reihen möchte man sich bekanntermaßen durch Überpünktlichkeit sichern. Dabei sind die Türen bereits offen, das immer superfreundliche Personal ist eifrig Tickets am Scannen, und das Foyer brummt bereits jetzt vor vorfreudigen Menschen. Vor dem Konzertsaal selbst sind noch samtene Absperrseile, man kann noch nicht hinein. Ich muss kurz lachen, denn der einsame Empfangsmann für den Stehplatzbereich sieht nicht aus, als hätte er eine Chance, wenn es mit der Traube hunderter Leute vor ihm zu einer „Situation“ käme, aber er beantwortet so geduldig die vor Enthusiasmus ungeduldig gestellten Fragen, dass alle brav vor ihm warten.
Aus der allmählich tatsächlich etwas zu vollen Vorhalle dürfen die Menschen dann endlich in den Saal strömen. Am Endziel angekommen spürt man mit der allgemeinen Erleichterung nun umso deutlicher, wie sehr Wardruna ersehnt worden sind, und ich freue mich direkt noch mehr, einfach, weil alle sich freuen, hier zu sein.
Zur Überbrückung läuft vom Band stimmungsvolle Musik von u.a. Jonna Jinton, Neuzugang bei Einar Selviks Label By Norse. Über sie ist man in den letzten Jahren vielleicht gestolpert, wenn man während des sechzehnten Lockdowns seine Sehnsucht nach einem Draußen mit YouTube-Videos zu kompensieren versuchte.
Auch die Special Guest des Abends gehört zur Familie By Norse.
Jo Quail tritt zu ihrem Blickfang an skeletthaftem E-Cello hinzu. Keine großen Worte. Die Musik spricht.
Die Künstlerin ist konzentriert in ihrem Spiel und verschmolzen in der Umarmung mit ihrem Instrument. Mal sachte, mal kraftvoll zieht sie ihren Bogen über die Saiten, klopft auf den Hals, lässt Klänge hallen und surren. Mit geschlossenen Augen spiegelt ihr Gesicht die Welt wider, die sie gerade sieht und die sie mit lockeren, aber bestimmenden Händen über ihr Instrument zu uns transportiert.
Wer Jo Quail (von ihren Tourneen mit z.B. Emma Ruth Rundle, Amenra oder Mono, oder von ihren Auftritten auf dem Hellfest und Roadburn) nicht kennt: Das hier ist keine klassische Klassik, sondern höchstexperimentell, und das Cello sieht nicht nur badass aus, sondern hat eine Menge Tricks auf Lager. Was man auf der Bühne nicht sofort sieht: die Pedalboards und Loop Stations mit ihren vielen Knöpfen, die Jo Quail mit ihren Füßen betätigt, um ihre Loops und Effekte zu kreieren und sogar Percussions in ihre Livemusik einzubinden. Es beeindruckt mich ungemein, wie komplex es sein kann, mit ohrenscheinlich wenigen Klängen eine Atmosphäre voller Geheimnisse zu schaffen.
Diese introspektive Musik lebt vor allem von den stillen Momenten. Es herrscht eine respektvolle Ruhe im Raum. Respektvoll im zutiefst ehrlichen Sinne des Wortes. Die Künstlerin erfährt als Openerin für die großen Wardruna vom Publikum nämlich keine lediglich brave Duldung, bis es endlich zum Hauptact kommt, wie das auf Konzerten leider schon mal der Fall sein kann. Die Menge im Saal lauscht auch nicht nur aufmerksam: Sie ist hypnotisiert!
Mit ihrem majestätisch in die Höhe gehaltenen Bogen könnte Jo Quail die Spannung in der Luft zerschneiden, doch stattdessen dirigiert sie sie, markiert mit dieser Bewegung Beginn und Höhepunkt ihrer Stücke. Die Leute (ge)horchen weiterhin.
Das Set ist kurz, weil die Stücke lang sind. Als die Cellistin nach gefühlten 10 und gemessenen 30 Minuten den letzten Song über ihr Mikrofon ankündigt, ist es überaus seltsam, mit einer solchen Ansage in eine Welt zurückgeholt zu werden, in der so etwas Profanes wie Zeit existiert. Die scheinbare Kürze ihrer Performance ist ihr allerdings bewusst, und so verspricht sie mit einem Lächeln, dass der letzte Song dafür zehn Minuten lang sein wird: Adder Stone. Mit diesem Closer wird es wuchtig: Metallische Klopfsounds und ein brutaler Anschlag bilden die rhythmische Grundlage für eine leidenschaftliche Melodie. Mit seinem Groove ist dieser Song eine echte Überraschung, die mit ihrer Erschafferin im Kopf bleibt!
In der Pause füllen sich auch die allerletzten 5% der verbliebenen Sitzplätze auf den Balkons.
Licht aus. Das Ritual kann beginnen.
Kvitravn ist eine großartige Einleitung, mit seinen anrufenden Gesängen, der Trance evozierenden Tagelharpa und Lyra sowie den kraftvollen Trommelschlägen. Ab jetzt sind wir in einer Anderswelt, mit magischen Schattenspielen und Lichttänzen.
Ein erster großer Hingucker ist die wörtlich interpretierte Darstellung von Solringen auf der Leinwand über den Silhouetten der Stars dieses jetzt schon großartigen Abends.
Mit einer guten Mischung aus den ikonischsten Songs hauptsächlich der beiden letzten Runaljod-Alben und des 2021er Kvitravn ist die Setlist hervorragend zusammengestellt! In ihre Mitte haben Wardruna kleine Highlights platziert – nicht nur in musikalischer, sondern auch inszenierungstechnischer Hinsicht:
Selvik trägt Voluspá in der vielgeliebten Version mit nichts als Stimme und Lyra vor, und schafft so eine Intimität, die durch die Projektion seiner Hände und seines Gesichts auf die Großleinwand nicht gebrochen, sondern intensiviert wird. Seine Mimik ist derart ausdrucksstark und wichtig für diese Performance, dass es auch schade wäre, wenn diese Emotionalität nicht bis in die letzten Reihen durchdränge. Noch einmal: Riesiges Kompliment zu Bühnen- und Lichtdesign!
In Tyr werden die beiden riesigen Luren dem einarmigen Gott zu Ehren geblasen. Die riesigen Kriegstrompeten sind in Spotlight getaucht, und bieten mit ihren die Wand zierenden Schatten einen imposanten Anblick. Ihr durchdringender Ruf scheint den Saal bis in die letzten Ritzen zwischen den Stühlen auszufüllen, es ist ein Moment des Innehaltens.
Mit Grá und Isa tritt die Band wieder mehr in ein spirituelles Gefühl der Gemeinschaft ein, denn diese Stücke sind mehr Tanz und Gesang als alles andere. Gerade Lindy-Fay Hella ist in solchen Songs ein Element, ohne das die Songs nicht ganz funktionieren würden: Sie wirbelt über die Bühne und wirft ihren Gesang aus dem Brustkorb in die Himmel, die wir unter dem Dach des Gebäudes trotzdem sehen.
Von den Balkonrängen aus betrachtet sieht man, wie dabei alle sind: Fast keine Handybildschirme, alle sind gebannt von der Show. Die Menge bewegt sich wie vor sich hin köchelndes Wasser, sobald die Lichter ausgehen und ein Song verstummt, sind Jubelschreie und Applaus frenetisch. Wie harmonisch sich im Publikum diese Art der Ekstase mit Momenten der Andacht abwechseln kann, das will ich hier nicht rational erklären, sondern genießen und bestaunen. Selbst nicht-spirituelle Personen können hier Emotionen finden und sich von Wardruna Erinnerungen schaffen lassen.
Fehu ist ebenfalls einer dieser Songs und könnte einen würdigen Abschluss darstellen. Wardruna halten sich aber an die Etikette der Konzertwelt und kommen unter Stürmen des Beifalls für eine Zugabe mit dem Song Helvegen wieder, „a song about dying, about singing, about crossing over“. Zum ersten Mal richtet Selvik das Wort an die Menge und legt seine Gedanken zur Musik von Wardruna sowie seine Sicht auf Musik im Großen und Ganzen dar:
„Wardruna is not about being vikings again. It’s about taking something ancient. It comes from nature. These sounds and ideas still resonate with us and speak to us. I have told many of you before: Singing is medicine. Singing together brings people together, as a family, as a tribe, as a society. Maybe not your neighbours. But screw your neighbours. This is your homework: go home and fucking sing!“
Allerdings geht nach der Verbeugung der Band und ihrem Abgang von der Bühne niemand nach Hause. Selvik hält sich ein zweites Mal an die Etikette der Konzertwelt. Es folgen notwendige, berechtigte und willkommene Worte des Dankes an die Crew, ohne die nichts von alledem, was wir heute erlebt haben, möglich wäre: „We are few people on stage, there are so many more behind the curtains!“
Mit einer humorvollen Lektion in Popkultur, Geschichte und Literaturwissenschaft werden wir in den abschließenden Song geführt: Selvik erzählt, wie er an der Musik der TV-Serie Vikings arbeitete, welche die Geschichte des Königs Ragnar Lodbrok interpretierte (eine Namenserwähnung, die amüsierende „Woo“-Rufe von Damen wie Herren im Publikum auslöst). Wie Selvik sich in skaldische Dichtung hineinfuchste: „Skaldic poetry speaks in images and abbreviations. Those texts are so brutal, it makes Black Metal look like kids‘ songs – but in a beautiful way.“ Und wie der besungene Tod des Heldenkönigs in der Schlangengrube ihn zu Snake Pit Poetry inspirierte: „When in danger, do a poem first, and then die.“
Wie viel Liebe und Dankbarkeit an solchen Abenden in der Luft liegt, formuliert Selvik nach diesem Song noch einmal in unsere Richtung: „We wouldn’t be able to do this without you, either. It’s a two-way thing, that you allow us to share this. This evening showed us: We need to come back here more often!“
Auch wenn dieser Abend noch lange in mir nachklingen wird:
Das müsst ihr unbedingt!