Artist: Gaahls Wyrd
Herkunft: Bergen, Norwegen
Album: Braiding The Stories
Spiellänge: 42:15 Minuten
Genre: Esoteric Extreme/Black Metal, Dark Ambient, Gothic Metal
Release: 06.06.2025
Label: Season Of Mist
Links: Gaahls Wyrd auf Bandcamp und Gaahls Wyrd auf Instagram
Bandmitglieder:
Vocals – Gaahl (Kristian Espedal)
Gitarre – Lust Kilman (Ole Walaunet)
Schlagzeug – Spektre (Kevin Kvåle)
Bass – Nekroman (Andreas Salbu)
Tracklist:
- The Dream
- Braiding The Stories
- Voices In My Head
- Time And Timeless Timeline
- And The Now
- Through The Veil
- Visions And Time
- Root The Will
- Flowing Starlight
Mehr Black Metal könnte er auch dann nicht ausstrahlen, wenn wir 25 Jahre in der Zeit zurückreisten: Kristian Espedal kreiert ohne Rücksicht auf Erwartungen. Mit dem Projekt Gaahls Wyrd hat er in den letzten Jahren so einige Gorgoroth-Fans zu sich gerufen und seinen Namen gleichzeitig einer neuen Gruppe an Zuhörigen wie Hostien in den Mund gelegt. Das zergeht auf der Zunge: GastiR – Ghosts Invited (2019) war eingängiger Black Metal, zuweilen durchzogen von ehrwürdig dahinschreitenden Rhythmen und Melodien. The Humming Mountain (2021) kehrte die Verhältnisgrößen um und hüllte nordische Mythologie als spirituelles Konzept in meditative Dunkelheit.
Da haben wir auch das Schlüsselwort: Gaahl ist ein Konzeptkünstler und so ist Braiding The Stories ebenso wieder ein Konzeptalbum: Thematisch und musikalisch bewegen wir uns im Unbewussten, in unvorhersehbaren Träumen. Atmosphärisch bleibt man sehr kontinuierlich – aber, ganz der Kunst ergeben, folgen:
Überraschungen, die alles ändern
Im Intro The Dream malt der Widerhall einer einsamen Gitarre den weiten Raum des Albumthemas aus. Nicht nur textlich klingt der letzte Song der vorigen EP nach und merzt die Lücke der letzten vier Jahre innerhalb von zwei Minuten aus. Gaahls dunkles Raunen in unmittelbarer Nähe des Ohrs schafft vor surrealem Flirren eine Intimität, eine Brücke zum Unbewussten. Wenn der Künstler sich stimmlich in selten gehört und unerhört hohe Sphären erhebt, sind wir in den Tiefen der Anderswelt des Selbst angekommen.
Darin verbreitet der Track Braiding The Stories zunächst wunderbar schwermütige Gothic-Vibes: Mal schleppende, mal fließende Sekund-Melodien von Vocals und Synths ziehen miteinander am Tau. In diesem Spannungsfeld werden wir weiter hinabgelassen in eine Schwebe aus Zeit, zitterndem Flüstern und einer Snare, die weiter mit Erwartungen spielt. Für ein Projekt des Black-Metal-Grafen ist der plötzliche Aufstieg in melodiöse Helligkeit sehr ungewöhnlich, in der Zusammenarbeit mit Lust Kilman aber alles andere als unlogisch oder unpassend! Dessen Leads und Soli befreien den Song geradezu und man kehrt mit wacherem Bewusstsein in die Introspektion zurück, wo die Düsternis dann nur umso beeindruckender wirkt!
Gaahls Falsett-Entrückungen kreieren auf diesem Album genau die Effekte von Exzentrizität, ambivalenter Verwunderung bis hin zu angstgestörter Anziehung, die Träume nicht selten mit sich bringen. Über den Soundverzerrungen, dem Saitenstöhnen und -kratzen in Voices In My Head levitieren die Vocals wie entsandt aus einer anderen Bewusstseinsebene.
Die Gitarre stammt aus einer anderen Zeit, und könnte mit ihrem vollen Dröhnen ebensogut Cello wie Konzertflügel sein!
Eine Schwarmplage aus krächzenden Dämonen und sämtlichen überdrehten Emotionen, die ein Synthesizer so draufhat, fällt in Time And Timeless Timeline über uns her …
Trance, tribale Trommeln und Black Metal (nicht ganz) alter Schule
…und huiuiui, nach der Hypnose der letzten Titel knallt der vierte Track heftigst rein: Kitzelnde Riffs, Blast Beats und ein stimmexperimentierfreudiger Gaahl, bereit, alles niederzubrennen.
Eines der spannendsten Epen des Albums ist And The Now. Aufgeregte Riffs und ungeduldig zischende Becken verheißen Großes, unaufhörlich raunt es in den Texturen des Untergrunds. Geistergesänge erzählen ein Geheimnis und spannen dabei den lyrischen Faden wieder zurück zu The Humming Mountain (2021). Langsam und stetig braut sich der Song zu einem gewaltigen Sturm zusammen, in dessen Sounddesign man selbst Bäume umknicken zu hören meint. Spektre klopft auf seinem Kessel der verstreichenden Zeit die Dringlichkeit vor, Pizzicati auf Streichern und ein in Dissonanzen sterbendes Piano warnen vor dem Finale. Der Song hält einen in diesem Dalí-haften Jetzt lange hin und stets hellwach! Unter erhabenen Trommeln, gebieterischen Chants und einstürzenden Instrumentenarrangements darf man sich schließlich begraben lassen – mein letztes Lebenszeichen: Gänsehaut!
Durch das letzte Interlude Through The Veil kratzt ein Riff alter Black-Metal-Schule den Tunnel hin zu Visions And Time, eines von Gaahls bisher ungewöhnlichsten Geisteskindern! Der erste Eindruck unter Beschwörungsformeln und rituell anmutender Kickdrum lehnt sich an das Ende von And The Now an: Wardruna goes Black Metal. Und dann sind die Riffs plötzlich derart elektronisch verwandelt, dass man sich irgendwo zwischen Ambient Trance und 80er Synth-Avantgarde wiederfindet. Den offenen Ohren unter der Zuhörerschaft kann ich versprechen: Das ist ebenso stimmungsvoll wie das zentrale Gitarrensolo und Nekromans selbstvergessenes Bassspiel. Nichts clasht hier, alle Elemente führen geschmeidig zum letzten Abschnitt dieser Erkundungsreise. Im Walzer mächtiger Drums wiegt es sich schließlich durch rauschende Distortion und verschiedene Ebenen an Vocals und Instrumenten. Gerne wäre ich gerne noch ein wenig länger in diesem Zustand verblieben, aber glücklicherweise klingt sein Echo dank Ohrwurmcharakter mental und musikalisch noch eine Weile nach.
Best of 80s & 90s!
Die nächste Welle rollt mit dem Blackened Heavy Metal von Root The Will über uns hinweg. Wilde Riffs und Soli reißen alles nieder! Heiser wütend und mit Kreischen so spitz wie Fingernägel auf Schiefertafeln lässt Gaahl noch einmal gänzlich neue Kreaturen in die Albumdramatik los. Aus dieser Gewalt entlassen dürfen wir im Trauermarsch abermals die Rennaissance gespenstischer Gothic-Melodien feiern.
Nach diesen letzten beiden Titeln muss ich sagen: Derart geschmackvoll haben selbst während des Hochs des Genres in den 90ern nicht alle Bands komponiert!
In diesem Musikjahrzehnt bleiben wir allerdings nicht – der Richtungswechsel ist vielschichtig radikal und absolut köstlich! Den hardcore Gorgoroth-Fans lache ich allerdings schon mal Adieu.
Flowing Starlight bringt an letzter Stelle unerwartete Leichtigkeit der 80er ins Album. Hell singt die Gitarre im Wechsel mit Gaahls aus dem Dark Wave hergezauberten Gesangslinien. Die Band streift durch pulsierende Arrangements, tanzt auf Gräbern und lässt den Gothic Rock kurz auferstehen. Spektres Schlagzeugspiel ist eine virtuose Trommelfellmassage, Lust Kilman schichtet Süße über Melancholie.
Für mich als Musik-Polyamore ist der Titel die reinste Wonne an Nostalgie einer Zeit, die ich nie live erlebt habe, sowie an Frische im Sound des Albums!
Mit seinem vertrauten Co-Produzenten Iver Sandøy (Enslaved, Wardruna) zusammen schuf Gaahl einen Sound, der auf dem bisherigen aufbaut: Hinter zitternden Klangschleiern lebt das Songwriting noch mehr auf, es rumort und donnert in der Atmosphäre, elektronische Signale zeigen uns den Weg ins Nirgendwo und das Pochen am Ohr ist geradezu physisch.
Das Sounddesign als Ganzes ist auf dieser Veröffentlichung wie ein eigenes Instrument, welches die Gedanken hinter Braiding The Stories logisch verwirrt und komplex verwebt.
Dieses Werk ist zugänglich genug, um bereits beim ersten Durchlauf zu wirken, aber auch ausreichend abstrakt, um tausend weitere lang interessant zu bleiben!
Erscheinen wird Braiding The Stories in den Formaten:
- Digital Download
- CD Digipak
- 12″ Vinyl Gatefold – Black
- 12″ Coloured Vinyl Gatefold – Crystal Clear & Black Marbled
- 12″ Coloured Vinyl Gatefold – Silver & Dark Green Marbled
- 12″ Special „Hair-Filled“ Vinyl
- Kassette