Artist: Sleep Token
Herkunft: London, England
Album: Even In Arcadia
Spiellänge: 56:33 Minuten
Genre: Post Metal, Progressive Metal, Pop, R&B
Release: 09.05.2025
Label: RCA Records und Sony Music
Link: https://www.sleep-token.com/
Bandmitglieder:
Gesang – Vessel
Schlagzeug – II
Bass – III
Gitarre – IV
Gastmusikerin:
Saxofon – Gabi Rose (Emergence)
Tracklist:
- Look To Windward
- Emergence
- Past Self
- Dangerous
- Caramel
- Even In Arcadia
- Provider
- Damocles
- Gethsemane
- Infinite Baths
„Auch in Arkadien gibt es ihn, den Tod.“ So lautet die Interpretation des Gemäldes Et In Arcadia Ego von Nicolas Poussin, der ein führender Maler des klassischen französischen Barockstils war. Auf Sleep Tokens inzwischen vierter Opfergabe dient Arkadien als Metapher dafür, dass das Leben selbst in diesem vermeintlich idyllischen Paradies und der Tatsache, dass man alles hat, was man sich wünscht, immer noch hart und mühsam sein kann.
Waren die maskierten Briten bei meinem ersten Kontakt auf This Place Will Become Your Tomb noch eine unbekannte Variable für mich, so ist das Kollektiv spätestens seit Take Me Back To Eden, meinem persönlichen Album des Jahres 2023, zu einer festen Konstanten in meinem Leben geworden und auch aus der modernen Metalszene sind Sleep Token nicht mehr wegzudenken. Mein Dank gilt im Voraus wieder der lieben Martha W., die, wie schon zu den letzten beiden Alben, zusammen mit mir „worshipt“.
Ja, danke auch an Flo W., dass wir wieder zusammen „worshippen“ und unser drittes gemeinsames Sleep-Token-Review schreiben. Für mich war bei diesem Album vor allem anders, dass ich seit dem letzten Mal mehr über Songwriting gelernt habe und sich so meine Perspektive auf die Musik von Sleep Token geändert und das Verständnis der Genialität, aber auch der Einfachheit entwickelt hat. Starten wir also auf die nächste Reise in die Welt von Sleep Token.
Track by Track
Look To Windward
Flo W.: Das Gesicht wird direkt zu Beginn windwärts gerichtet. Die polyphonen, repetitiven Klänge versetzen mich in einen nostalgischen Trancezustand. Klingt wie Musik von diversen Rollenspielen auf dem von mir geliebten Super Nintendo. Gesanglich wiederholt sich ebenfalls ein Thema: „Wirst du diese Finsternis in mir aufhalten?“ Diese Frage stellt sich der Protagonist immer und immer wieder. Doch in diesen knapp acht Minuten zu Beginn gibt es mehr zu entdecken als nur Wiederholungen. Kaum wiegt man sich in Sicherheit, schon schlagen Sleep Token erbarmungslos zu. Die Wände kommen näher, die Situation schürt Panik. Markerschütternde Schreie, tonnenschwere Riffs und das immer wieder erstaunliche Drumming von II (gönnt euch seine Performance bei Drumeo!) setzen erste Ausrufezeichen. Die ebenfalls schon bekannten Trademarks in Form von luftig lockeren R&B-Klängen werden nach kurzer Zeit wieder von einer Lawine erdrückt. Ich ringe nach Luft.
Martha W.: Mit diesem Albumeinstieg habe ich irgendwie gar nicht gerechnet. Nach mehrmaligem Hören denke auch ich dabei an Musik aus dem Gaming-Kontext, wobei das Arcade-Game auch meine erste Assoziation mit dem Albumtitel war. Dann geht es aber doch recht klassisch für Sleep Token weiter, Vessel singt die Hook des Songs in bekannter Manier über einen Synth-Part. Auch die gesungenen, hohen „Aaaahhs“ von Vessel kennen und lieben wir. Die gezupften Strings als erster Höhepunkt gefallen mir ganz fantastisch. Dann auch direkt das tonnenschwere Gemetzel und wir wissen wieder, dass auf diesem Album doch nicht alles anders wird. Warum klingen diese Djent-Parts eigentlich immer so brachial? Weil sie echt turbotief sind. Also als Referenz, die Gitarren sind bis auf die tiefste Basssaite genauso tief wie der Bass. Und auch der R&B-Part verrät uns, bei Sleep Token ist vieles beim Alten geblieben. Das sollte bestehende Fans und neu Dazugestoßene gleichfalls beglücken. Wer sich übrigens fragt, warum man zu dem Song am liebsten Walzer tanzen möchte, es ist ein Dreivierteltakt. Wer also noch Inspiration für die nächste Hochzeit braucht, bitteschön.
Emergence
Flo W.: Zugegeben, als Sleep Token als ersten Vorboten für dieses Werk Emergence aussendeten, war ich etwas ratlos. Der Beginn? Ganz schön klebrig. Der Mittelteil? Irgendwie kopflos. Das Ende? Schon eher versöhnlich. Nach mittlerweile zahlreichen Durchläufen sehe ich mehr Potenzial. Das wiederkehrende und mit düsteren Vocal-Effekten versehene Thema „So go ahead and wrap your arms around me“ zieht mich in seinen Bann. Das Drumming, vor allem im eher vertrackten Mittelteil, ist einfach „proggy as hell“ (warum fühle ich mich hier wie ein Ninja?) und das Saxofon zum Ende, gespielt von Gabi Rose, ist einfach nur sexy. Kein Wunder, dass viele Fans beim Hören dieses Songs etwas horny werden. 😁
Martha W.: Anders als bei Flo war Emergence mein Favorit der drei Singles. Der Build-up über die 2:40 Minuten war für mich so sinnvoll, dass ich keine Sekunde gezögert habe, mich auf diesen Höhepunkt zu freuen. Die Hook wurde bis dahin auch schon so oft wiederholt, dass ich natürlich schon mitsingen kann. Auch die Reduzierung danach funktioniert für mich total gut. Überhaupt ist der ganze Song einfach maximal smart. Und wir brauchen generell einfach bitte mehr Saxofone!
Past Self
Flo W.: Kürzlich sagte ich zu dir, liebe Martha, „dass Sleep Token ohne Zweifel die tanzbarste Band in meiner Playlist sind.“ Was du mit sich vor Lachen krümmenden Emojis quittiert hast, ist durchaus ernst gemeint. Denn obwohl die Drumbeats oft polyrhythmisch durch die Gehörgänge wanken, drehen die R&B-Passagen den Spieß oft genug wieder um. Past Self ist das perfekte Beispiel. Hier kommen auch die Hater wieder ins Spiel, die schreien „dass ST ja gar kein Metal sind“. Nun ja, wenn man sich diese Art von Song herauspickt, kann man wohl kaum widersprechen. Leider ist diese Nummer für mich nicht nur tanz- sondern auch skippbar.
Martha W.: Ja, die erste Single war echt strategisch platziert und jetzt gibt es wieder was Neues. Diese Synths sind einfach „to die for“! Was die Songs vorher schon angedeutet haben, kommt jetzt sehr deutlich raus: Die Vocals sind anders. Wer noch mal an den tiefen Sitz der Vocals auf der This Place Will Become Your Tomb denkt, merkt den Vergleich sehr stark. Hier sitzen die Vocals jetzt viel höher (nicht die Tonhöhe), aber haben immer noch den unverwechselbaren Stil von Vessel. Ich mag es ja auch, wenn man den elitären „Das ist gar kein Metal“-Metalfans sowas unter die Nase reiben kann. Außerdem endlich ein Song, mit dem man die Band auch Friends und Family unterjubeln kann, die keinen Metal mögen, weil da immer jemand schreit. Und wie Flo schon sagte, Sleep Token sind einfach tanzbar. Also den Song gerne bei der nächsten Party in die Playlist schmuggeln.
Dangerous
Flo W.: Synthies und Samples beherrschen zunächst auch in Dangerous das Geschehen, ehe im Folgenden vermehrt der Fokus auf Gitarren und Drums liegt. Darüber singt Vessel weiterhin mit klarer Stimme. Das ist mal was Neues, dennoch bevorzuge ich in diesem Kontext seine Harsh Vocals. So geht mir etwas der dramaturgische Bogen verloren und ich suche nach dem Extrakick. Diesen finde ich zumindest in den poetischen Lyrics des Masterminds, den ich dafür sehr verehre. Die Textzeile „And I am caught in time, like clockwork beneath the permafrost“ ist einfach großartig.
Martha W.: Dangerous fängt auch wieder so typisch an mit Synths und Gesang. Aber die Melodien und der Sound machen wieder etwas Unverwechselbares daraus. Aber wie Flo schon sagt, liegt die Innovation hier scheinbar an den Clean Vocals über dem harten Part.
Caramel
Flo W.: Dass Karamell eine sowohl klebrige als auch süße Versuchung ist, werden die Zuckerschnuten unter euch vermutlich nur zu gut wissen. Diese Aussage trifft ebenfalls auf den gleichnamigen Song zu, denn dieser bleibt an mir haften wie Karamell. Vessel setzt sich (wie auch in anderen Aspekten dieses Werkes) mit seiner Hassliebe zur Bühnenperformance auseinander. Diese Fans, die ihm einerseits zujubeln und anderseits seinen realen Namen schreien und ihm sprichwörtlich versuchen, die Maske zu entreißen, sind eine große Herausforderung. Der Fluch und Segen, berühmt zu sein. Das Synthie-Thema klingt wie eine alte Spieluhr und leitet emotional ein. So berührend die Lyrics auch sind, ihr müsst tapfer sein und eure Hüften weiter schwingen, denn nichts anderes ist hier möglich. Tanzrhythmen, Chorgesänge, Post-Black-Metal-Geballer? Why not? Freunde, das Teil ist ein Hit.
Martha W.: Boah, ich weiß es ja nicht. Das ist für mich der Song, der mich selber in mir drin am meisten polarisiert. Ich kann diese Hook nicht ausstehen, aber ich mag alles andere an diesem Song. Dabei ist die Textzeile nach dem „Stick to me like caramel“ die eigentlich interessante, die da geht „Walk beside me ‘till you feel nothing as well“. Man denkt also erst, es ist so eine cheesy Romantikkiste, aber dann kommt wieder die emotionale Schelle. I like it. Aber was ist denn noch bei Vessel los? „The stage is a prison, a beautiful nightmare“? Flo hat es ja schon erzählt. Ich hatte das tatsächlich gar nicht mitbekommen, aber was für ein Kack-Move! Ich hasse Menschen einfach. Aber mein letztes Sleep-Token-Konzert war schon sehr geprägt von Leuten, die einfach laut über alles andere reden und Bier trinken. Ich habe mich gefragt, warum sie das auf einem ausverkauften Konzert von so einer Band machen. Ich konnte nicht anders, als jedes Wort mitzusingen und zu genießen. Aber so sind die Menschen verschieden, I guess.
Even In Arcadia
Flo W.: Der Titelsong ist mitnichten ein so gewaltiges Monster wie sein Pendant auf dem Vorgängeralbum. Viel mehr handelt es sich um eine in sich gekehrte, schwermütige Ballade. Aus irgendeinem Grund erinnert mich der Songaufbau an die Amerikaner von Thirty Seconds To Mars. Der Moment in einer großen Halle, in dem die Feuerzeuge (Ü40) bzw. Handylichter (Gen Z) zum Einsatz kommen.
Martha W.: Mein erster Gedanke nach dem Song war, dass hier genau wie beim Vorgängeralbum der Titelsong mein Lieblingssong wird. Diese Balance zwischen emotionaler Belastung und Entlastung vereint in einem Song, fühlt sich richtig wild an. Außerdem ist hier etwas passiert, was ich mich nicht erinnere, von Vessel jemals gehört zu haben: dieser Grit, diese Distortion bei 3:20. Diese eine Zeile, die alles wegpustet, um danach zu tun, als wäre nichts gewesen. Ja und mehr als Klavier, Cello und Gesang braucht man eigentlich auch nicht für einen guten Song. Und was passiert in den 18 Sekunden nach dem letzten Ton bis zum Ende? Ist es leises Lagerfeuerknistern? Ist es ein alter Zug? Ich habe Fragen, aber keine Antworten – nur 18 ruhige Sekunden Unsicherheit.
Provider
Flo W.: Die sexuelle Spannung in Provider ist greifbar, aber die stark betonten Reime törnen echt ab. Das ist mir alles zu glatt und blütenrein. Erst ab der Hälfte und mit zunehmender Härte entwickelt sich das Schmierentheater zu einem preisgekrönten Schauspiel. Jetzt kann ich die Leidenschaft spüren. Besser spät als nie.
Martha W.: Also bei diesem Text platzt mir einfach der Kragen. Wenn ich Songtexte schreibe, benutze ich meistens, wenn mir kein Reim mehr einfällt, eine Plattform, die einem alle Reime zu einem Wort gibt. Dann nehme ich meistens etwas, was inhaltlich passt, irgendwie auch tiefgründig ist und das ist selten unter den ersten paar Wörtern. Und hier kommt Vessel einfach und reimt Provider auf Insider auf Decider und dann irgendwann einfach auf Spider. Das magische Wunderkind der Lyrics und dann sowas. Ich bin empörter, als ich sein sollte, glaube ich. Aber sonst wird das auch nicht mein Song, aber wenn man die Hook schon nicht mag, wird es auch schwer, den Rest eines Songs zu mögen.
Damocles
Flo W.: Das lyrische Pendant zu Caramel. Der Gesang nebst Message steht weit im Vordergrund. Die Tage im Rampenlicht lösen Selbstzweifel beim Protagonisten (Vessel persönlich?) aus. „Niemand weiß, was mit mir nicht stimmt. Was, wenn die schönen Tage (Diamond Days) gezählt sind und ich in Vergessenheit gerate?“ Je nach Perspektive eine egoistische oder aber einfach nur menschliche Reaktion. Die Lyrics sind für mich „too much to handle“ und ich versinke darin. Zerbrechliche Gitarren- und Pianoakkorde wechseln sich mit auffordernden Upbeats und zerstörerischen Drumparts ab. Schöpft der Protagonist neue Hoffnung oder trügt der Schein? Sicher ist nur, dass ich einfach ALLES an diesem Song liebe.
Martha W.: Damocles war von den Singles bei mir nur auf Platz zwei und ich habe das Gefühl, auch nicht genug über den Herrn, dessen Name der Titel des Songs ist, zu wissen. Ja, da war was mit einem Schwert, und die Moral von der Geschichte war irgendwie, dass viel Macht haben zwar cool, aber auch unangenehm ist, aber da müsste ich mich noch mal hineinlesen. Aber wenn man das mit Flos Interpretation vom Rampenlicht verknüpft, ergibt es doch auch wieder Sinn. Ich mag den Song, aber so hart hat mich die Geschichte noch nicht gecatcht.
Gethsemane
Flo W.: Im Garten Gethsemane verbrachte Jesus von Nazareth seine letzte Nacht in Freiheit, hier betete er in Todesangst zu Gott, hier wurde er von Judas verraten und von den Römern gefangengenommen. Dieser Ort ist voll von christlicher Bedeutung und ebenso unerlässlich für dieses Album. Denn es handelt sich um den ersten Song, bei dem ich das Gefühl habe, dass sich Sleep Token vollständig aus ihrer Komfortzone herausbewegen. Eine hohe Tonlage im Gesang, die man so nicht von Vessel kennt, neue Gitarrensounds mit ungewöhnlichen Akkordfolgen und einfach eine Songstruktur, die sagt: „Hey Leute, wir können noch viel mehr.“
Martha W.: Ich lieb’s einfach, dass Flo hier schon den Plan hat, was der Songtitel uns für einen Schauplatz für den Song bietet. Ich bin von den Lyrics einfach maßlos verwirrt bis beunruhigt. Aber musikalisch geht ja mal einiges und zum ersten Mal werden Sleep Token den modernen Prog-Vibes mit hohem Gitarrengenudel gerecht. Ist das der Hinweis, wo die Reise von Sleep Token als Nächstes hingeht? Wir wissen es nicht.
Infinite Baths
Flo W.: Bei dieser scheinbar harmlosen Gute-Nacht-Geschichte lauert ein Monster unter dem Bett. Mehr schreibe ich dazu an dieser Stelle nicht. Watch out and beware!
Martha W.: Dafür, dass auf dem letzten Album der von mir sehr verehrte Titeltrack am Ende kommt, finde ich Infinite Baths als Ende irgendwie schwach. Außerdem frage ich mich, ob jemand den Song vermisst hätte, wenn er nicht auf dem Album gewesen wäre. Gethsemane hätte für mich ein sehr richtungsweisendes Ende sein können, aber da wird noch ein Song hinterhergeschoben. Anyways, ich habe noch mal geguckt und unter meinem Bett waren zumindest keine Monster.