Sleep Token – Take Me Back To Eden

Ein „vesselndes“ Erlebnis – worship!

Artist: Sleep Token

Herkunft: London, England

Album: Take Me Back To Eden

Spiellänge: 01:03 Stunden

Genre: Progressive Rock, Progressive Metal, Ambient, Pop, R’n’B, Hip-Hop

Release: 19.05.2023

Label: Spinefarm Records

Link: https://www.sleep-token.com

Bandmitglieder:

Gesang – „Vessel“

Schlagzeug – II (alle Bandmitglieder treten maskiert und anonym auf)

Tracklist:

  1. Chokehold
  2. The Summoning
  3. Granite
  4. Aqua Regia
  5. Vore
  6. Ascensionism
  7. Are You Really Okay?
  8. The Apparition
  9. DYWTYLM
  10. Rain
  11. Take Me Back To Eden
  12. Euclid

Wie klingt Musik für den Zeitgeist der Menschheit? Sleep Token haben sich an einem Soundtrack durch die Höhen und Tiefen unserer emotionalen Weiten gewühlt und gefühlt alle Ebenen gestreift. Take Me Back To Eden ist das nächste episch verwirrend und beruhigende Werk des mysteriösen, britischen Bandkollektivs um Sänger Vessel.

Nachdem wir das letzte Album This Place Will Become Your Tomb irgendwo zwischen Progressive Rock, Metal, Ambient und Pop eingeordnet haben, müssen wir die Liste nun noch um R’n’B, Blues und Hip-Hop erweitern.

Die Hintergrundgeschichte der Band beruht auf der Anbetung einer antiken Gottheit mit Namen Sleep. Der Rest der Band bis auf den Sänger, der sich selbst als Vessel bezeichnet, sind namen- und identitätslos. Die Band gibt keine Interviews und versteht sich als Medium (Vessel) zwischen den Irdischen und der schlafenden Gottheit.

Auf allen Bildern, Videos und Konzerten tragen die Mitglieder Masken und lange dunkle Umhänge. Seit dem Euroblast Festival 2019 wurde die Konzertliste immer länger, Headlineshows sind aktuell in Minuten ausverkauft.

Nach dem ersten Album Sundowning (2019) und dem zweiten Album This Place Will Become Your Tomb (2021) erblickte am 19. Mai 2023 das dritte Werk Take Me Back To Eden das Licht der Welt.

Für diesem Artikel haben sich unsere beiden Redaktionsmitglieder Florian W. und Martha W. erneut zusammengetan, um euch ihre Einblicke zu Take Me Back To Eden zu geben.

Chokehold

Martha W.: Der Song Chokehold wurde wie einige andere Songs des Albums bereits im Vorfeld als Single veröffentlicht. Da ich das Album das erste Mal im Kontext hören wollte, habe ich es fast geschafft, alle Singles, Reaction-Videos und Instagram-Werbungen zu umschiffen und freue mich, dieses getragene und epische Intro als ersten Song auf dem Album zu hören. Ein bisschen habe ich das Gefühl eines Prologes, wo erst mal ruhig über das Thema eingeführt und die Stimmung gesetzt wird. Der erste Song eines Konzertes, wo der Vorhang noch vor der Bühne hängt, man diese ersten verzerrten Töne mit dem eindringlichen Gesang hört und das Publikum gehypt kurz vor der ersten Eskalation steht. „You got me in a Chokehold”, kann man quasi wörtlich nehmen, denn mir stockt der Atem, bevor die Djent-Keule losgeht und mein imaginärer Vorhang fällt. Aber wie zu erwarten, bringt die Strophe mich erst mal wieder runter. Die Sirenen untermalen den Ernst der Lage.

Das lyrische Ich wird also in einer Situation festgehalten, aber am Ende kommt die Auflösung, sich aus dieser Situation befreien zu wollen, auch wenn es schmerzt, man nicht schlafen kann, möchte man den Weg hinausgezeigt bekommen.

Das Album ist auf jeden Fall schon mal mit einem Banger gestartet und Chokehold ist mein erster Anspieltipp.

Florian W.: Knapp zwei Jahre nach dem wundervollen This Place Will Become Your Tomb sitzen wir wieder zusammen am imaginären Tisch und philosophieren über den Abschluss der Trilogie einer Band, die seit meiner ersten Begegnung komplett durch die Decke gegangen ist. Die ersten Singles von Take Me Back To Eden erreichen allein auf Spotify zusammen um die 100 Millionen (!) Streams. Alte Fans „worshippen“ das Phänomen ohnehin, neue Fans sind spätestens seit den umjubelten Auftritten mit Architects dazugekommen, die Presse findet nur selten kritische Worte und gestandene Musiker huldigen den maskierten Wesen. Allein das Vocalcover von Will Ramos (Lorna Shore) zur ersten Single Chokehold kommt bei YouTube auf 1,5 Millionen Views. Mein persönlicher Drumheld Mike Portnoy (ex-Dream Theater, u. a. Sons Of Apollo) ernannte das neueste Werk der Briten zum Anwärter auf sein persönliches Album des Jahres. Alles nur Hype? Oder sind Sleep Token wirklich so gut? Das „make it or brake it“ Album Nummer drei wird es zeigen.

Ganz so gut wie du, liebe Martha, konnte ich die ersten Vorabveröffentlichungen nicht umschiffen, habe aber rechtzeitig die Reißleine gezogen, um die Magie bei Erscheinen des Albums nicht zu verlieren. Chokehold lief demnach schon einige Male, bevor das endgültige Werk auf dem Tisch lag. Diese Tatsache tut dem Opener aber keinen Abbruch. Nervös tänzele ich hin und her, während sich die Vocals zu Beginn unaufhaltsam den Weg durch meine Gehörgänge bahnen und dann … boom – das Riff sitzt. Der unscheinbare Gesang im Hintergrund, der sich langsam untermischt, verstärkt den Spannungsbogen. Die von dir angesprochenen Sirenen sind anscheinend ein Gitarreneffekt, der eindringlicher kaum sein könnte. Dass anschließend wieder rasch die Notbremse gezogen wird, ist typisch für den Stil der Band. Laut-leise Dynamik haben die Briten ohne Zweifel drauf. Ich habe mich Hals über Kopf in die folgenden Zeilen verliebt: „Even if it hurts me, even if I can’t sleep, show me the way.“ Es ist nicht mehr zählbar, wie oft ich allein diesen Part wiederholt habe. Chokehold wird aus dem Liveset nicht mehr wegzudenken sein – instant classic.

The Summoning

Martha W.: Der heavy Einstieg gefällt mir direkt richtig gut. Nach einer ruhigen Strophe voller Melodien wird auch direkt wieder geballert und gescreamt. Das anschließende Geflüster macht mir richtig Gänsehaut. Dann bin ich kurz von dem unerwartet klassischen Gitarrensolo irritiert. Nach einem langen atmosphärischen Part ohne viel Input kommt auf einmal der unerwartete Twist und ich dachte schon, ich hab den Songwechsel verpasst. Es groovt, ich tanze durch die Küche, aber der Song hat sich nicht geändert. Alle sind verwirrt – gut so.

Textlich scheint sich das lyrische Ich hier auf den Weg begeben zu haben, um etwas Aufregendes zu erleben und scheinbar kommen hier auch schon die ersten sexy Vibes des Albums, aber das lasse ich euch selber nachlesen.

Außerdem möchte ich immer noch, dass jemand den Film zu diesem großartigen Soundtrack dreht.

Florian W.: Wie dick ist bitte der Sound zu Beginn von The Summoning? Vessel und Produzent Carl Brown haben ganze Arbeit geleistet. Der nachhallende Glockenklang im Hintergrund ist ein gutes Beispiel für die Detailverliebtheit beim Songwriting. Sowohl in den hohen Passagen als auch in den Screams erkenne ich eine starke Weiterentwicklung des Masterminds hinterm Mikro. Besonders edel kommt das Ganze, wenn beide Tonlagen überblendet werden. Bei dem fiese Geriffe tuschiert meine Nasenspitze beim Moshen den Boden. Wie du sagen würdest: „That’s why I do Powerlifting“ und ich kann nur entgegnen „that’s why I have Rückenschmerzen“. 😄 Doch was kommt nach dem Massaker? Ist das etwa Jazz? Zumindest geht es in die Richtung und der bereits auf dem Vorgänger-Album von mir gefeierte II hinter der Schießbude kann sich austoben. Schaut euch einfach mal Reaction-Videos anderer Drummer zu seinen Darbietungen an.

Granite

Martha W.: Der Anfang hat für mich leichte Blade-Runner-Vibes und es bleibt auch weiter elektronisch. Ich warte auf den Einsatz von mehr Instrumenten, aber dem ist nicht so. Ich glaube, was ich höre, ist irgendwas zwischen R’n’B und Hip-Hop? Das ist tatsächlich Musik, die in meinen Playlisten selten bis nie stattfindet (sicher unberechtigt), aber wenn das, was ich gerade höre, Hip-Hop ist, I’m in! Ah, endlich nach über zwei Minuten, mein vermisster Djent-Part. Bei dem Gedanken, dass der Song bei Spotify & Co. auch Hip-Hop-Fans untergejubelt wird, um ihnen dann diese verzerrten Gitarren um die Ohren zu hauen, erfüllt mich irgendwie ein Gefühl der Genugtuung.

Florian W.: Nach diesem beeindruckenden Auftakt kann Granite nur verlieren. Was aber nicht heißen soll, dass die Nummer nichts kann. Das Genre-Glücksrad wird noch mal heftiger gedreht. Mittlerweile kann ich mit elektronischer Musik deutlich mehr anfangen als noch vor ein paar Jahren. Richtig gut wird es, wenn die pumpenden Basslinien gegen Ende mit tänzelnden Synthies untermalt werden.

Aqua Regia

Martha W.: Ok, als ich die Trackliste gelesen habe, habe ich direkt als Erstes die Bedeutung des Songnamens gegoogelt. Der Name steht für das „Königswasser“ und es kann fancy Chemie-Dinge, die Edelmetalle lösen (vielleicht fragen hier unseren Kollegen Lommer noch mal). Dieses „chemische“ Thema zieht sich auch durch den Text. Musikalisch bewegen wir uns hier in ruhigen, melodiösen und sehr groovigen Gefilden, die zum gemütlichen Schunkeln einladen. Die Hook des Refrains bleibt mir auch über den Tag weiter im Kopf: „Aqua Regia – Oxytocin running in the ether“.

Florian W.: Wir sind halt doch zwei Erbsen in einer Schote, Martha. 😄 Auch ich habe Google bemüht, um vom königlichen Wasser zu kosten. Beim einleitenden Beat nicht mitzuwippen, scheint unmöglich. Der Mittelteil könnte ebenfalls an einem gemütlichen Abend in der Pianobar laufen. Halten wir fest, dass man Sleep Token sowohl Hip-Hop als auch Jazz-Fans problemlos unterjubeln kann. Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.

Vore

Martha W.: Auch der Song Vore wurde bereits als Single-Auskopplung veröffentlicht, beginnt direkt mit härteren Klängen und hält diese auch eine Weile durch. Der typische Strophen-Beruhigungs-Move kommt aber auch hier wieder zum Tragen. Vore ist aber deutlich der härteste Song auf dem Album. Die Melodie des ruhigen Parts in der Songmitte hat bei mir ganz harte Vibes vom Songende von EvanescenceMissing. Danach baut der Song sich wieder ein bisschen in rückwärtiger Reihenfolge ab.

Florian W.: Habe ich immer noch das richtige Album laufen? Vore klingt einfach mal nach derbstem Post-Black-Metal-Geschepper. Nachdem die markerschütternden Schreie verfliegen, dringt das Geflüster weiter unter die Haut. Bei all den Genres, die man bemüht ist, abzudecken, klingt das Ganze trotzdem zu jeder Zeit stimmig und das ist die Kunst. Ich möchte diesen Song tief einatmen und mit ausgebreiteten „Flügeln“ herausschreien: „Are you in pain like I aaaaaaam?“

Ascensionism

Martha W.: So langsam nähern wir uns dieser Sorte Songs mit Klavier und Gesang, die mich emotional immer am meisten mitnehmen. Der anschließende Übergang in diesen (Hip-Hop?) Beat mit quasi Rap-Part schiebt mir die aufkeimenden Tränen aber zumindest erst mal in die Augen zurück und ich überlege, wie man sich zu dieser Sorte Musik am besten bewegt.

Was will uns der Song-Name dieses Mal sagen? Ascensionism bezeichnet eine Religion, die primär auf dem Glauben an Reinkarnation basiert. Inhaltlich bewegen wir uns scheinbar in einem Trennungs-/ Befreiungsthema zwischen digitaler Welt der Algorithmen und der Realität zwischen zwei Menschen auf der anderen Seite.

Florian W.: Mit über sieben Minuten mal wieder ein „langes Brot“. Die fragilen Klavierpassagen gehören einfach in den Kontext der Band. Mit jedem noch so unscheinbaren „Geräusch“ wie die zehn Sekunden ab Minute 1:35 versetzen Sleep Token Berge. Danach muss man kurz ein Allergiemittel gegen Autotune schlucken. Immerhin braucht Vessel die Funktion nicht, weil er nicht singen kann, sondern eher als Effekt, um die Szene weiter voranzutreiben. Witzig, dass du eingangs von einem Film sprichst, denn genau so einer läuft während des Hörens vor meinem geistigen Auge ab. Was nach dem Rap-Part folgt, ist einfach nur episch. Wie ein weiser (und weißer) Zauberer in meiner Lieblingstrilogie, Herr der Ringe, sagt: „Das tiefe Luftholen vor dem großen Sprung“. Beim Spaziergang mit diesem Song auf den Kopfhörern passierte ebenfalls etwas „Magisches“: Genau in der Passage kurz vor dem „Umbruch“ erspähte ich einen Greifvogel, der sich vom Wind tragen ließ, um dann im Sturzflug auf Beutejagd zu gehen. Manchmal passt einfach alles zusammen.

Are You Really Okay?

Martha W.: Der Einstieg erinnert mich an eine meiner vielen heiß geliebten Alter Bridge Balladen. Allein der Song-Name hat gefühlt schon alles gesagt. Aber als Vessels tiefer Gesang ganz zart einsetzt, habe ich schon eine Ahnung, wo die Reise hingeht. “Are you really okay?” ist die zentrale Frage voller Intimität. Weg von dem oberflächlichen Stereotyp „Wie geht es dir?“„Mhm, ja gut“. Ertappt, die Antwort auf “Are you really okay?” ist ehrlicherweise nicht einfach ja. Manchmal schon, manchmal aber auch einfach nicht. Dieser Song trifft genau ins Schwarze und zwingt mich auf eine sehr intime Art und Weise dieses „Nein“ in mir zu entfesseln. Man sagt, Erkenntnis ist der erste Schritt, für mich geht es aber noch einen Schritt weiter, mit einem Ja zur letzten Textzeile: „Please don’t hurt yourself again“. Dieser Song gibt die Hoffnung, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist. Jemand ist mit dir, der dich versteht und deine Dunkelheit wahrnimmt. Gleichzeitig zeigt der Song die Hilflosigkeit des Gegenübers, einem zu helfen und alle Probleme des anderen zu lösen. Aber das ist auch eine Aufgabe, die einem niemand abnehmen kann. Wir können uns nur selbst heilen und andere können uns auf diesem Weg nur begleiten.

In mir haben dieser Song und dieser Text jedenfalls einen sehr befreienden Heulkrampf ausgelöst.

Florian W.: Auf die Frage nach dem Befinden sollten wir alle weniger mit Floskeln antworten. Herzensmenschen wollen wirklich wissen, was in euch vorgeht. Umgebt euch mehr mit dieser Sorte Mensch. Der akustische Beginn erinnert mich kurz an alte Schmachtfetzen der Sorte Uriah Heep, was als Fan der Band positiv gemeint ist. Nur zunächst etwas ungewohnt. Sleep Token sprengen weiterhin die Ketten der Genrepolizei. Je weiter ich mich in den Text vertiefe, desto schneller gerate ich wieder in Abgründe meiner Gedanken, die ich lange nicht mehr zu Gesicht bekam. „Hello darkness, my old friend.“ Im Konzertsaal sehe ich Lichter, Tränen und Menschen, die sich in den Armen liegen.

The Apparition

Martha W.: The Apparition – die Erscheinung. Wir steigen wieder ein mit Gitarrenmelodie und Gesang. Unsicherheit, ob die Erscheinung jetzt real oder eine Illusion ist. Der nächste Part ist ohne Vocals mit Synthies und elektronischer Melodie, bis der Refrain sich sehr rhythmisch darüberlegt und wieder die verzerrten Instrumente mitbringt. Erinnerungen aus der Vergangenheit lassen einen nicht los, ein Nebel voll Schemen – Abstrakter Gesang mit Synthies, wieder verbunden mit dem rhythmischen Refrain. Am Ende atmosphärische Synthies im Outro.

Florian W.: Lyrisch schließt sich The Apparation mit selbstzerstörerischen Gedanken bzw. Träumen an. Nach dem Intro erinnert mich der Part an den Stil auf Post Traumatic, dem zweiten Soloalbum von Mike Shinoda (Linkin Park). Schöner, atmosphärisch gehaltvoller Songaufbau. Irgendwie wirkt alles schwerelos.

DYWTYLM

Martha W.: Ich bin irritiert und gucke, ob mich gerade jemand anruft, als der Song losgeht. Es ist aber tatsächlich das Songintro – ich weiß auch eigentlich, dass keiner meiner Klingeltöne so klingt, aber das geht mir trotzdem viel zu oft so. Die hüpfende Melodie hat was von Wellen und die einzige vergleichbare Melodie, die mir einfällt, ist der Xylofon-Anfang von Shape Of You von Ed Sheeran.

Das Thema der zwischenmenschlichen Gefühle wird wieder aufgenommen: Do you wish that you loved me? (DYWTYLM).

An diesem Song ist wirklich kein Tropfen Metal dran. Aber ich taufe es Ocean Jungle Pop.

Florian W.: Es folgt ein kleiner Druckabfall. Do you wish that you loved me? Tut nicht wirklich weh, ich könnte aber darauf verzichten. Einfach so Musik, die ausm 3er-BMW pumpt und ich normalerweise nicht in der Playlist habe. Das restliche Niveau ist allerdings so hoch, dass ich kein Problem mit der Nummer habe.

Rain

Martha W.: Rain fasst für mich alle Elemente dieser neuen Evolutionsstufe von Sleep Token sehr gut zusammen. Ruhiges Intro, Gesang auf Klavier, dann mehr Gitarren, ausgefeiltes Drumming, eingängige Hooks und jetzt noch quasi gerappte Vocals, danach Kombinationen in verschiedenen Abfolgen. Leider hier nicht noch bisschen Screams.

Mit der Regenthematik kenne ich mich als Wahl-Aachenerin bestens aus und kann mich mit den vielen Metaphern im Text identifizieren.

Florian W.: Rain ist ein richtiger Grower. Beim ersten Hören fast unscheinbar weitergeskippt, wächst das Stück mit jedem weiteren Durchlauf. Die Texte „vesseln“ einfach und gehen unter die Haut. Das ist hier kein billiger Pop mit Gitarren. Beim abschließenden Mitklatsch-Part, sehe ich eine Armada aus Drummern, die beleuchtete Percussions mit aufwirbelnden Wassertropfen im Takt schlagen. Ich denke sofort an Thirty Seconds To Mars, denen die Nummer auch gut zu Gesicht stehen würde. Gemacht für große Stadien, die Sleep Token vermutlich bald im Alleingang füllen werden.

Take Me Back To Eden

Martha W.: Musikalisch beginnt der Song mit entferntem Vogelgezwitscher auf getragenen Melodien und in meinem Kopf eröffnet sich eine Szene von einem dunklen, verwilderten Wald, der mit dem einsetzenden Gesang an mir vorbeizieht. Die Vögel zwitschern weiter und mit dem Löwengebrüll setzt der Refrain ein, aber noch ohne den Rest der Band. Die setzt schließlich doch noch mit gewohnter Sound-Wand ein, arbeitet sich einem Höhepunkt entgegen und droppt dann doch fast zur kompletten Ruhe. Wie in so vielen Songs auf diesem Album kommt auch noch der Hip-Hop-Part um die Ecke und geht in den poppigen Refrain mit eingängiger Hook über. Thematisch wird das Intro noch mal wiederholt, Klavier und Vogelgezwitscher. Aber die Tonart des Gesangs wechselt und gibt dem Ganzen einen vollkommen anderen Geschmack. In der nächsten Strophe hat man fast das Gefühl, einen anderen Song zu hören. Die Kombination dieses Stils mit dem Refrain von vorher führt jedoch alles zusammen. Das Outro kann man als SleepTokenesq bezeichnen und gebrüllt wird auch noch. Die musikalische Form der Katastrophe am Ende des Plots.

Der Titelsong Take Me Back To Eden gibt für mich auch noch mal eine klare inhaltliche Linie vor. Irgendwie assoziiere ich den Text des Albums mit der Geschichte von Adam und Eva, auch wenn ich absolut nicht bibelfest bin. In fast jedem Song gibt es neben religiösen Vokabeln auch Referenzen, dass das lyrische Ich einen (weiblichen*) Gegenpart hat, die im ersten Song Chokehold „gemacht“ wurden und dann ihre Reise vom Garten Eden auf die Erde antreten und die menschliche Gefühlswelt und Erfahrungen mit allen Herausforderungen durchleben. Da das alles, wie wir ja alle wissen, schon irgendwie belastend ist, ist es legitim, kurz vor Ende des Albums wieder nach Eden – das Paradies, zurückzuwollen. Meine Theorie wird gestützt durch die Text- und Melodiewiederholung aus Chokehold (erster Song des Albums). Jedenfalls scheint es, als wäre Eden nur ein Wunsch, ein unmöglicher Traum, dem stressigen Erdenalltag zu entfliehen und Ruhe und Frieden an einem ursprünglichen Ort mit Natur zu finden.

Take Me Back To Eden ist mit 08:20 Minuten der längste Song auf dem Album. Für mich nichts zum passiv hören, aber definitiv auch ein Anspieltipp.

Florian W.: Titelsongs haben für mich immer eine wichtige Bedeutung, die von manchen Bands für Opener oder gar Interludes „verpulvert“ werden. Mit dem über achtminütigen Take Me Back To Eden beweisen Sleep Token, dass sie die Meister der Spannungsbögen sind. Getragen und instrumental auf ein Minimum reduziert, bahnt sich die Stimme ihren Weg. Man wartet förmlich darauf, dass die dicken Gitarrenriffs wieder ausgepackt werden. Diese erscheinen dann auch kurz auf der Bildfläche, untermalt von Klavierpassagen, die erneut in gerappten Versen münden. Diese Reise geht vom tiefsten Tal auf den höchsten Berg, vom eiskalten See zum brodelnden Vulkan, der im Schlussteil ausbricht. Tief durchatmen.

Euclid

Martha W.: Nach dieser emotionalen Achterbahn freue ich mich, diesen nostalgisch hoffnungsvollen Song als Abschluss zu hören. Wie im Film stelle ich mir vor, wie die Hauptfigur in den Horizont schlendert und alles hinter sich lässt. Der verzerrte Chor singt ihr hinterher, wie alles gut wird. Die Herbstblätter fallen von den Bäumen. Ich habe außerdem ein bisschen Panic At The Disco Vibes mit mehr verzerrten Gitarren. Sleep Token meets Brendon Urie.

Beim Hören von Euclid hatte ich direkt ein Déjà-vu, bzw. ein Déjà-écouté oder wie man das nennt. Euclid ist als letzter Song eine Referenz zu The Night Does Not Belong To God vom Album Sundowning aus 2019. Außer der musikalischen Referenz finden wir in Euclid auch den Text-Twist: The Night Belongs To You. Ich liebe solche inhaltlichen Bezüge, wenn sich ein Kreis schließt.

Florian W.: Das zuckersüße Piano-Intro im letzten Stück bringt den aufgewühlten Geist wieder in die Spur. Hoffnungsvolle Stimmung macht sich nach all den seelischen Abgründen breit. „… my mind is an open highway“ (Like Frankie said, „I did it my way“, oder so 😄). Diese „Suchtgefahr“, die sich schon auf This Place Will Become Your Tomb breitmachte, wird hier noch verstärkt. In Zeiten, in denen man Streaming-Dienste „füttern“ muss, um gesehen zu werden, nutzen Sleep Token für ein Album, welches als Ganzes unfassbar gut funktioniert und perfekt mit den Vorgängern der Trilogie harmoniert. Wenn Melodien und Textzeilen wieder aufgriffen werden, hüpft mein altes Progger-Herz vor Freunde. Ich bin emotional ergriffen und möchte gleich noch einmal in die Wunderwelt von Eden eintauchen.

Sleep Token – Take Me Back To Eden
Fazit
Martha W.:
Ich bin wieder hin und weg, der neue Soundtrack für mein chaotisches Leben ist upgedatet. Und ich bin einfach glücklich, dass es immer noch Bands gibt, die alle Genre-Grenzen über den Haufen werfen und einfach extrem qualitative, emotionale Musik machen, was die Musikwelt und die Fans gleichermaßen würdigen. Um mit einem Zitat von Nik Nocturnal zu enden: „Sleep Token is just fucking good“

Anspieltipps: Martha W.: Chokehold, The Summoning und Take Me Back To Eden

Florian W.:
Hat mir auf dem Vorgänger an der einen oder anderen Stelle noch der Härtefaktor gefehlt, so legen Sleep Token auf ihrem neuesten Werk ein ordentliches Pfund nach. Damit meine ich aber gar nicht billige Effekthascherei in Form von Breakdowns und kalkulierten Riffs, sondern die generelle, emotionale Schwere, die auf den Songs liegt. In Zeiten völliger Übersättigung kann man nur bestehen, wenn man Musik macht, die bis auf wenige Ausnahmen unverwechselbar ist und den Hörer auf emotionaler Ebene abholt. Das haben die Briten mit Take Me Back To Eden ohne Zweifel geschafft. Bleibt nur noch zu klären, auf welchem Konzert wir uns treffen, Martha?

Anspieltipps: Florian W.: Chokehold, Ascensionism und Take Me Back To Eden
Martha W.
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Florian W.
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