Artist: Wardruna
Herkunft: Bergen, Norwegen
Album: Birna
Spiellänge: 66:35 Minuten
Genre: Nordic Folk, Neofolk, Ambient
Release: 24.01.2025
Label: By Norse Music, Sony Music
Link: https://wardruna.com/
Bandmitglieder:
Gesang, Tagelharpa, Kravik-Leier, Bukkehorn – Einar Selvik
Gesang – Lindy-Fay Hella
Percussion, Hintergrundgesang – Arne Sandvoll
Percussion, Hintergrundgesang – Sondre Veland
Bukkehorn, Lure, Flöte, Hintergrundgesang – Eilif Gundersen
Schlagzeug, Percussion, Hintergrundgesang – HC Dalgaard
Moraharpa – John Stenersen
Gastbeiträge:
Chor – Koret Artemis
Gesang und Field Recordings – Jonna Jinton
Seljefløyte – Hans Fredrik Jacobsen
Maultrommel – Kenneth Lien
Hintergrundgesang – Iver Sandøy
Tracklist:
- Hertan
- Birna
- Ljos Til Jord
- Dvaledraumar
- Jord Til Ljos
- Himinndotter
- Hibjørnen
- Skuggehesten
- Tretale
- Lyfjaberg
Was ist das mit Wardruna? Diese Wikingerband. Diese Esoterik-Hippies. Die seit sechzehn Jahren nicht wegzulächeln sind. Ihr Publikum wächst, ihre Welttournee-Shows sind ausverkauft, die größten Muskelprotze zerfließen auf ihren Konzerten in Tränen.
Das darf man ebenso ernst nehmen wie ihre Entwicklung:
Nach der Runaljod-Trilogie (2009-2016) beschlossen sie ihre lange Tradition der Erzählung nordischer Mythen in wuchtigen Musiklandschaften mit dem minimalistisch-akustischen Skald (2018). Dass sie mit Kvitravn wieder zu ihren Wurzeln zurückkehrten, kann man nicht wirklich sagen, und irgendwie doch. Obgleich der Sound auf dem 2021er-Album wieder üppig und vielschichtig war, machte die Band mit einem logischen thematischen Sprung nun deutlicher, dass das Wikingerzeitalter eher poetisches Mittel zum Zweck gewesen ist: Das Herz Wardrunas schlägt für die Verbindung mit einem Ursprung, mit der Natur.
Auf ihrem sechsten Studioalbum ist das Motiv noch konkreter, die Thematik proportional universeller (und vielleicht leichter zugänglich): Birna folgt als Konzeptalbum der Spur seiner Namensgeberin, der Bärin, und ruft das mächtige Wesen als Wegweiserin zur Natur zu uns zurück.
Dass diese Reise wieder einmal musikalisch berauscht und berührt, das ist kein Spoiler. Denn das ist das mit Wardruna.
Sakral, tanzbar und Metal as fuck
Die ersten beiden Songs waren als Singleauskopplungen eine nachvollziehbare Wahl, besitzen sie doch diesen Wardruna-typischen, energetischen Ritualcharakter.
Hertan zieht mit dem Herz(!)schlag von Tier und Trommel schnell und linear hinein in Huldigungsgesänge und Anrufungen an Natur und das eigene Innere (was für Wardruna ohnehin dasselbe ist). In Tempo und Aufbau generiert der Opener ein Gefühl von klarer Richtung und ungezügeltem Tatendrang.
Der Titeltrack ist ebenso riesig im Sound, aber reflektierend; die Schichtung der Instrumente erlaubt keinen Ausbruch aus der Intensität, und wer sollte das auch bitte wollen? Ist dieser Song instrumental schon unheimlich dicht, so untermauern gewaltige Luren erst die Bedeutung des dringlichen Dialogs von menschlichem Tier und Birna. Lindy-Fay Hella schickt erdige Klagen in den Himmel, während die Background-Stimmen die wortlose Geschichte in den Räumen mystisch anmutender Harmonien weitererzählen.
Wardruna wären nicht Wardruna ohne diese ganz spezielle Atmosphäre des Sakralen – Aufwärtsbewegungen der Gesangsmelodien und lange gehaltenen Noten, enorm viel (Gespür für) Reverb, große Dynamik durch die Gewichtsverlagerung der Instrumente sowie simple Taktangaben, die nicht dumm sind, nur weil sie die Masse leicht mitnehmen.
Und die Chorarrangements! Himmlische Wirkung entfalten diese durch die Stimmfarben des Osloer Folk-Frauenchors Artemis in den Songs Ljos Til Jord und Himinndotter.
Das andächtige Hauptmotiv von Letzterem könnte ebenso durch eine Kirche wie durch ein Gebirge hallen. Kontrastiert wird es von archaischem Krächzen und Knurren der Hauptstimmen der Band und euphorischen Rhythmen, bis sich auf dieser Suche nach natürlicher und spiritueller Ursprünglichkeit schließlich alles harmonisch in Eins vereint.
Ein Blick in die Lyrics von Ljos Til Jord verrät, dass Teile der letzten Strophe des Titelsongs hier im zentralen Chorstück verwendet werden: Man begibt sich allmählich zur Ruhe in die Bärenhöhle – mit einer kleinen Festivität! Vom Chor werden wir zum Tanz aufgefordert, die Hauptdarstellerinnen Flöte und Tagelharpa sind leicht und beweglich in ihren Phrasen. Der Song ist unwahrscheinlich freundlich und einladend, mit Selviks Vocals aber auch tief sehnsuchtsvoll.
Zu jener heilsamen Tanzbarkeit kehren wir später wieder zurück, und das mit dem Zehnfachen an Energie:
Skuggehesten ist mit Abstand der harscheste und in seiner Direktheit organischste Track des Albums! Rauer Sprechgesang aus den Tiefen der schon nicht mehr menschlichen Kehle, die unablässige Wiederholung des dunklen Tagelharpa-Riffs und das Hecheln des Galopps kommunizieren von allen Songs am unmittelbarsten mit den Urinstinkten und treiben uns in eine spirituelle Wildnis. Auf dieser berauschenden Jagd steigt der Geruch der Freiheit in die vom Stank Face verzogene Nase, denn das hier ist Metal as fuck!
Es stört nicht, dass die große Hymne des Albums eine längst bekannte ist: 2020 veröffentlicht, hat Lyfjaberg bereits einen Platz in Wardrunas Setlist, aber erst jetzt auf einem Album erhalten. Sein Evergreen-Status kam früh und wird sich nicht so schnell abnutzen, ist er doch eines der für die Magie Wardrunas repräsentivsten Stücke:
Ein hypnotischer, aber kraftvoller Rhythmus. Melodisch und dynamisch gleichmäßige Steigerungen bei Instrumenten und Gesängen, die einen mit hinaufziehen. Dramatischer und soundtechnischer Bombast. Der tranceartige Ritualgesang Lindy-Fay Hellas und ihrer Chöre, sowie ein Einar Selvik, der in seiner Performance seinen Körper verlässt.
Auf dieser Heilswanderung können sich heimlich Spirituelle und offen LARP-Begeisterte begegnen, um sich demselben Ziel zu verschreiben, denn den Einladungen der mühelos mitsingbaren Melodien folgt man leicht (und somit gerne). Die Themen Gemeinschaft und Heilsamkeit, um die es Selvik mit Wardruna auch geht, werden in diesem Song mit am deutlichsten, weshalb er auch ein von so vielen geliebter Live-Titel ist – und als kathartischer Abschluss von Birna würdig platziert!
Meditativer Filmsoundtrack
Im Jahreskreislauf der Bärin ist die winterliche Ruhephase ein zentraler Abschnitt, und als solcher wird sie auch auf Birna behandelt. Ambient-Anlänge sind für die Band nicht neu, doch das Konzeptalbum transformiert sich im Dienste seiner Erzählung zwischenzeitlich geradezu zum Soundtrack eines Films vor dem geistigen Auge. Wardruna bauen ihren Stil dazu nicht aus, eher lassen sie ein paar Fenster ein. Lassen etwas mehr Zeit für den Blick nach draußen und innen. Nicht jeder Augenblick muss von ritualistischem Tanz und Gesang erfüllt sein.
Der Track Dvaledraumar ist dahingehend eine Rarität in der Diskografie der Formation, wie es sie selbst auf dem experimentellen Gap Var Ginnunga (2009) nicht gab. Als eine Art Meditation verweilt er in gänzlich anderen Sphären. Field Recordings von sich unter Wasser geräuschvoll ausbreitendem Eis (bereitgestellt von Künstlerin Jonna Jinton, ebenfalls stimmlich zu hören mit ihrer Kulning-Technik), dumpfer Trommel-Herzschlag, ätherische Stimmen, einen alten Zauber verbreitende Leier, aber vor allem eine Menge Zeit im Dazwischen lullen fünfzehn Minuten lang in einen ewigen Schwebezustand.
Hinübergeschöpft wird diese Stimmung in das schlichte Jord Til Ljos, in dessen Verlauf das tropfende Eis zu Bächen und das Vogelgezwitscher lauter wird. Mit der Bewegung in die Musik kehren wir schließlich zurück in die erwachende Welt.
Die Zwillingssongs besitzen eine Schönheit von im Sonnenlicht glitzernden Eiszapfen. Weniger ist hier eindeutig mehr. Das Bukkehorn setzt nur Akzente, die Tagelharpa singt fast schon im Unbewussten, die Seljefløyte ist mehr Vogelart als Instrument. Man weiß, was man will, und wo. Die Instrumentierung packt nicht, sie lässt uns einfach sein. Magisch ist das auf eine andere Weise als die der intensiven Klangspektakel und großen Dramatikbögen, zu denen Wardruna bekanntlich fähig sind.
Tretale spielt ebenfalls in dieser Atmosphäre, wenn auch weniger mit Ruhe als mit Spannung. Sein Geheimnis liegt in Flüstern, Raunen, Summen und unter knirschendem Laub. Der Gesang bleibt auch dann im Gesamtsound eingebettet, wenn er sich in Strophen erhebt, um dort weiterzuführen, wo nötig – bedeutet: nicht allzu oft, und nie so, dass sich das Stück wirklich zum „Song“ strukturiert (und sich dadurch entzaubern würde). Die Kravik-Leier vertont Einsamkeit, sachte Percussion-Crescendos bringen die Luft zum Vibrieren, die Flöte kontrapunktiert die omnipräsente Düsternis und am Ende bleibt es einem selbst überlassen, ob das, wo man hineinrennt, Gefahr oder das Licht am Ende des Waldes ist.
Ein Echo aus Wardrunas Skald-Ära schafft auf dem Album einen besonderen Moment:
Mit einem Duett von Kravik-Leier und Stimme lädt Selvik in die Behaglichkeit von Hibjørnen. Kaum wahrnehmbare Winterwinde und die Abwesenheit jeglichen Reverbs versetzen an einen friedlichen Ort im Bauch der Welt. Dieser Track ist dabei nicht nur die Voluspá für den sachte erwachenden Frühling. Er fasst in sich auch die Lyrics aus Dvaledraumar und Jord Til Ljos in Strophen und Refrain ein – so wurde dem Winterschlummer ein Wiegenlied gewidmet.