Zeal & Ardor – GREIF

Das Biest, das nicht zu fassen ist

Artist: Zeal & Ardor

Herkunft: Basel, Schweiz

Album: GREIF

Spiellänge: 42:39 Minuten

Genre: Avantgarde Metal, Post Black Metal, Alternative Metal

Release: 23.08.2024

Label: Redacted

Link: https://www.zealandardor.com/

Bandmitglieder:

Lead Vocals & Gitarre – Manuel Gagneux
Backing Vocals – Marc Obrist
Backing Vocals – Dennis Wagner
Gitarre – Tiziano Volante
Bass – Lukas Kurmann
Schlagzeug – Marco von Allmen

Tracklist:

  1. the Bird, the Lion and the Wildkin
  2. Fend You Off
  3. Kilonova
  4. are you the only one now?
  5. Go home my friend
  6. Clawing out
  7. Disease
  8. 369
  9. Thrill
  10. une ville vide
  11. Sugarcoat
  12. Solace
  13. Hide in Shade
  14. to my ilk

Zeal & Ardor waren noch nie leicht einzuordnen. Wozu auch? Als avantgardistische Metalband mit souliger Eingängigkeit und gesellschaftsrelevantem Satanismus konnten sie jahrelang auf Festivals à la Montreux Jazz genauso herumstromern wie auf dem großen Wacken oder dem folkigen Midgardsblot. Ihre selbst-betitelte letzte LP (2022) wurde u.a. vom Metal Hammer gefeiert und mit Höchstwertungen versehen. Manuel Gagneux hat sich und seinem anfänglichen Solo-Projekt mit seiner Band relativ großen Stilfreiraum und für das nächste Album sicher noch größere Erwartungen erspielt, was besonders beachtlich ist in einem Genre wie Metal, in dem ironischerweise (von wem auch immer) oft wenig erlaubt wird.

Mit GREIF veröffentlicht die Band nun unter Gagneux‘ eigenem Label ihre vierte LP und zeigt: Was wir in den letzten Jahren von Zeal & Ardor gesehen und gehört haben, war noch gar nichts!

In mehr als einer Hinsicht.
Inhaltlich verlassen wir die hochpolitischen Sphären einer semi-fiktiven Welt, in der sich Sklavinnen und Sklaven okkultistisch-satanistischer Mittel bedienen, um sich von den Überlegenheitsfantasierenden ihrer (und unserer) Zeit zu befreien, und begeben uns auf eine innere Reise. Gagneux bezeichnet dieses Album als das bisher persönlichste. Vielleicht auch, weil die Bandkollegen, die für ihn immer mehr Freunde als Toursöldner waren, mit im Studio gewesen sind und mit ihren Instrumenten und Vocals zum ersten Mal selbst einen Release mitkreiert haben.

Und dann haben wir hier ein Album, dem erstmalig nicht einfach der Titel eines Songs verpasst wurde.
Benannt nach einem anti-aristokratischen Symbol der Stadt Basel, ist GREIF einerseits inspiriert von der Demokratisierung innerhalb der Band, und gleichzeitig doch weit weniger politisch gemeint, als es die Geschichte des Vogel Gryff und die vergangenen Alben von Zeal & Ardor vermuten lassen würden: Ähnlich seines Namensgebers ist das Album ein Biest aus verschiedenen Teilen und Gattungen, mit vielen Besonderheiten und Temperamenten. Und das wird verdammt persönlich!

Dem, wer Zeal & Ardor also sind und was sie können, nähern wir uns im Verlauf von GREIF ein ganzes Stück an.

Im ersten Track hören wir das muntere Pfeifen einer kleinen Truppe, die zur Marschtrommel unbekümmert ins Abenteuer ausrückt. Im Kontext der mal sanften, mal den Boden erzittern lassenden Gitarren wird dieses vertonte Gefühl von Optimismus immer mehr zu einem selbstsicheren Statement, das Gagneux mit proklamierendem Schrei und geraunten Aufforderung pointiert. Einem Song mit einer neckischen Pfadfinder-Melodie Ernsthaftigkeit zu verleihen, ist bereits ein kleines Kunststück. Zudem hätte the Bird, the Lion and the Wildkin als erster Song nicht besser platziert oder komponiert sein können, denn er bereitet in dichten anderthalb Minuten auf das ab jetzt zu erwartende Unerwartete an Sounds und Energien vor.

Jene von Fend You Off pendelt zwischen Anspannung und Befreiungsschlag. Inhaltlich geht es um die Abwehr von Angriffen einer anderen Person. Der damit verbundene Ärger und das innere Brodeln sind in den Arrangements mit kathartischer Direktheit und kluger Subtilität eingewebt. Instrumentierung und Dynamik sind genial: Dem Song liegt der Takt eines verdächtig unschuldigen Glockenspiels zugrunde, das einen wie ein Klingeln im Kopf oder eine tickende Zeitbombe keine einzige Sekunde loslässt. Dank heimtückischer Rhythmusstopps, gemein kurz aufheulender Erlösungsverheißungen der E-Instrumente und Klavierakkorden, die uns das grollende Versprechen ihres Crescendos ums Verrecken nicht einlösen wollen, kommen wir mit umso größerer Dringlichkeit immer wieder an den Punkt, an dem die unterdrückte Energie überkocht und uns surrend, dröhnend und zischend in die Explosion des Refrains reißt. Gagneux kippt in seiner ausdrucksstarken Gesangsdarstellung zwischen auferzwungener Zurückhaltung und dem Ausbruch daraus. Am Ende stehen ein Scream frei wütender Rage und triumphierender Gesang, gefolgt vom Moment des Friedens, wenn das Klingeln im Kopf schweigt und man Zeit zum Durchatmen hat. Allerdings nicht lange!

Das Album hat eine Menge Banger, und Kilonova ist einer der großen! Die Polyrhythmen sind umwerfend und erinnern in ihrem technischen Anspruch an den Prog von Tool oder Meshuggah; im Gegen- und Miteinander kreieren die Instrumente einen gewaltigen Funk, der in seiner Heaviness anschwillt und abklingt, und mit hypnotisierenden Vocal-Harmonien perfekt in Symbiose steht. Es ist ein schwindelerregendes Spiel, dem die genialen Drumfills und geschickt eingesprenkelten Soundeffekte Akzente versetzen, bei denen man Kiefersperre bekommen kann.

Nicht nur als Gegenpol zum bis hierhin Gehörten beeindruckt are you the only one now?, sondern vor allem in der Art, wie diese Ballade mit ihrer Mischung aus Verletzlichkeit und Härte keine ist. In der Melancholie der Gitarre und der Leichtigkeit des wiegenliedartigen Gesangs liegt eine Schwere, die in fiesen Screams, treibenden Blast Beats und erhebenden Tremolos auseinanderbricht. Zusammen mit den bittersüßen „Lalalas“ bäumt sich dieser Sturm aus Arrangements trotzig gegen jede Traurigkeit auf. Die Dynamik ist groß, aber nicht pompös, und spielt mit potenziell vorhandenen Hörerwartungen. Dieser Song besitzt emotional und musikalisch eine derartige Vielschichtigkeit und Intensität, dass ich mit meinen Worten letztlich auch nur an der Oberfläche kratze.

Allzu offensichtliche Anklänge an alte Zeal & Ardor-Zeiten gehören auf dem Album zu den raren Momenten, und so trifft die Gospel-Hymne Go home my friend an diesem Punkt aus einer interessanten Richtung ein.
Vor allem die Vocals tragen diesen kurzen, aber mitreißenden Track: Durch die aufeinander antwortenden Gesänge und die Harmonien strömt ein Fluss, dessen Schönheit nicht nur der Komposition, sondern auch den verschiedenen Klangfarben der drei Stimmen zu verdanken ist. In diesen steckt eine die Seele bloßlegende Inbrunst. (Das sind kitschige Worte? Sei’s drum.) Im Kontrast zu dieser Erhabenheit verdichten wirkungsvolle Ungewöhnlichkeiten wie orgelhafte Synths, Uhrenticken und ein heftig knisternder Beat den Song zu einem massiven Ganzen. Gagneux hat es abermals geschafft, einen mit der Band eng assoziierten Stil neu zu vermischen. Dieser Track ist geradeheraus, dabei aber nicht unkompliziert, sondern enorm aufregend.

Clawing out packt einen sofort! Der Themenkern einer zähen Situation, die zu überwinden noch größere Zähigkeit abverlangt, vibriert aus jeder Note, jedem Anschlag und Beat: Gitarren und Bass kratzen ebenso erbarmungslos am Trommelfell wie Hardcore-Kick und Death to the Holy-Synths am Nacken. Gagneux zieht sich kämpferisch von Wort zu Wort, gemeinsam hypnotisieren die drei Sänger in gehauchten Beschwörungsformeln ein Unheil, das sie mit gezischten Machtworten ebenso zu gebieten wissen. Drummer Marco von Allmen führt die Band mit einer alles überragenden Rhythmuskunst, sodass das Anziehen, Nachlassen und Abstoppen dieser Maschine an Song absolut organisch rüberkommt. Click-Tracks hin oder her, eine solche Spannung über die gesamte Songlänge hin zu halten ist (das wird sich vor allem live zeigen) ein Gemeinschaftsunterfangen, in dem die Bandmitglieder einmal mehr zeigen, was für Musiker in ihnen stecken und zu was für einer Einheit sie verschmolzen sind: Ein unruhig scharrender Bulle, der durch die Gitterstäbe das rote Tuch fixiert. Geduld und Willenskraft sind derart zum Zerreißen gespannt, dass man sich fast nicht traut, das Biest (im Menschen) losgelassen zu erleben. Noch besser als ein Ausbruch fühlt es sich nur an, unter dem Druck dieses Songs fast den Verstand zu verlieren, und genau darum sticht er unter den vielen Highlights auf dem Album noch einen Tick mehr heraus.

Im positivsten aller Sinne ist Disease vielleicht das hirnverbrannteste, das aus diesem Projekt je hervorgegangen ist. Plötzlich haben wir hier ein paar Dandies, die ihren schlendernden Stoner Rock mit bouncy Bass und in idealem Maße angetrunkenen Bluesgitarren mal im Falsett, mal halb gerappt vortragen. Ich fühle mich komplett verarscht und liebe es! Mit ungläubigem Kopfschütteln lache ich mich vergnügt durch den Song, denn das alles ist vom ersten Takt an titelgetreu hochansteckend.

Als kleine Zwischeneinlage ruft 369 starke Erinnerungen an die Devil Is Fine/Stranger Fruit-Ära wach, und ist eine Art beschwingtes Reboot des Live-Bangers Baphomet. Mit knirschender Übersteuerung und Verzerrung von allem, was sich eben so übersteuern oder verzerren lässt, schlägt der Track eine originelle Brücke vom Klang alter Phonographenzylinder-Aufnahmen, die Manuel Gagneux‘ Projekt in den Solo-Anfängen inspirierten, hin zu modernen Hardcore-Sounds im 2024er-Outfit der Band.

Thrill transportiert als unverschämt tanzbare Rock-Nummer die Ausgelassenheit eines gefährlichen Rauschs, der einen alles inklusive sich selbst vergessen lässt, und kulminiert mit dem leicht übergeschnappten Terz-Kreischen der Elektrischen in ein Delirium aus Vocals und rasantem Beat, bei dem man sich sogar auf die Wand freut, gegen die man fährt. Repeat!

Wieder runterkommen kann man beim zehnten Track. Im Interlude une ville vide laufen wir durch eine kleine Traumwelt oder, je nach Nostalgie-Reflexen, die Klangkulisse eines spacigen Retro-Games. Ich kann ehrlich nicht sagen, ob mich die Midi-Melodien eher heiter oder melancholisch stimmen, sie balancieren mich verspielt hin und her. In jedem Fall sind sie zauberhaft und amüsieren mich mit ihren kleinen „Boops“ und „Plings“. Ich entscheide mich für ‚heiter‘ und geh‘ nachher meinen Game Boy Color suchen.

Was Disease begonnen hat, pusht Sugarcoat weiter: Zeal & Ardor schnappen sich das Kostüm von Queens of the Stone Age und spielen sich selbst: Im fetten Bass-Sound von Lukas Kurmann kann man sich fast suhlen, die Gitarren kitzeln das Ohr mit frechem Quieken und viel Sand in den Verstärkern. Die melodiöse Unbeschwertheit in den Vocals erhält durch Fryscream und immer härter wummernden Sound einen Aufwind, aus dem raffinierte Drumfills und ein gefaktes Finish einen rausschmeißen, bevor man umso heftiger wieder mitgerissen wird. Ich habe so krass Spaß, ich schäme mich für keinen einzigen Lippenbeißer-Moment!

Aus dem High absoluter Sorgenfreiheit fällt es sich desto tiefer in den Abgrund. Genau dort liegt Solace. Schwere Klavierakkorde setzen einen Trauermarsch in Gang, über dem Manuel Gagneux von Hoffnung und Trost singt. Die Timbres von Dennis Wagner und Marc Obrist wirken in den Tiefen des Raumes unglaublich intensiv und schaffen eine faszinierend gespenstische Atmosphäre – bei den halbtonschrittkleinen Variationen stellen sich einem die Nackenhaare auf! Wabernde Gitarrenakzente und brillante Mandolinen-Tremolos geben dem Ganzen einen psychedelischen Touch, so als wäre man an der Schwelle zum Jenseits oder inmitten eines dystopischen Westerns. Bis die Gitarren sich mit Morricone’scher Majestät erheben und den Klangraum vollends durchfluten wie Sonnenlicht den dunkelsten aller Gräben. Wenn der Song wieder abebbt, scheint es einem selbst überlassen, vielleicht mit einem kleinen Glühen im Herzen den Weg aus der Finsternis zu finden.
Bonuskommentar: Metal und Country sind für viele ein streitbares Thema; Metal und Western gehen definitiv runter wie Öl.

Auf frühere Alben fest eingeschworene Fans erhalten mit Hide in Shade ein letztes Geschenk: Ein beinahe typischer Track, der das alte Label „Gospel meets Black Metal“ noch verdient. Eingängige Calls und Responses, Hooks und Tremolos wechseln und vereinen sich mit walzenden Drums und irren Screams. Mittlerweile dürfte aber klar sein, dass bei Zeal & Ardor „typisch“ relativ ist. Das Ätschbätsch des Songs kommt prompt in Form der tänzelnden Gitarren, welche der Pfeifmelodie aus the Bird, the Lion and the Wildkin zusammen mit der Rhythmik einen herrlichen Groove verpassen und damit den Albumkreis mit einem Augenzwinkern schließen. Manuel Gagneux und Tiziano Volante lassen diese Hook mal hüpfend daherkommen, mal ersetzen sie diesen Charakter mit einer Dringlichkeit, die sich der Kraft des Songs anschließt. Es sind Details und Musiker, in denen der Teufel steckt! Das Ganze macht verdammt viel Bock, gerade weil der Song auf „typische“ Z&A-Weise ein weiteres Mal austrickst: Die fast schon lyrischen Augenblicke gegen Ende entfalten eine ungeahnte Power der ganz anderen Art.

Mit der Ballade to my ilk rollt der Abspann eines großartigen Albums. Der Blues der wunderschönen Gitarrenmelodien fließt hell und freundlich dahin, in den zarten Vocals von Manuel Gagneux liegt bei aller Melancholie ein Trost, welcher der emotionalen Tiefe bis auf den Grund geht. Aus der Kulisse ermuntern sanftes Klatschen und subtile Synths, während der Bass seine wohlige Wärme an Ohr und Herz abgibt. Am Ende warten himmlische Gesangsharmonien mit einer letzten, erlösenden Umarmung.

Wieder solch kitschige Worte. Nur: Sind starke Emotionen denn wirklich kitschig? Nicht, wenn sie aufrichtig sind. GREIF fühlt sich für mich genau so persönlich an, wie es angekündigt wurde. Der politische Aspekt fehlt nicht, im Gegenteil: In besorgniserregenden Zeiten, in denen alles politisch und nach außen gerichtet zu sein scheint, ist es vielleicht umso wichtiger, das Ohr nach innen zu richten und sich durch die eigenen Gefühlslagen durchzuhören: Von Glück und keinem verschwendeten Gedanken an morgen in die Abgründe der Hoffnungslosigkeit. Doch auch dahinter steckt in den Songs immer die Zuversicht. GREIF ist mit seinen vielen Qualitäten vielleicht ein Vorschlag, wie mit Schmerz und Trauer („grief“) umgegangen werden kann.

Ein verdienter Kommentar zum Sound: Grammy-Preisträger Adrian Bushby (Foo Fighters, Muse) wusste diesen klar, aber in keiner Weise poliert erstrahlen zu lassen. Jedes Instrument erhält den Platz, den es braucht, um aus verschiedenen Richtungen und Raumtiefen heraus den Songs noch mehr Dynamik einzuhauchen. Auch kleine Effektspielereien und der Dreiklang der Stimmen erreichen dadurch eine spannende Wirkung. Dabei dürfen alle Klangelemente ihre Aufmerksamkeit bekommen, ohne darum buhlen zu müssen, selbst wenn sie subtil im Hintergrund vermischt sind (Stichwort Basssound!). Satt und groß wird es dabei genauso, ohne dass an den dichteren Stellen der Texturen irgendetwas verlorengeht. Somit klingt das Album organisch und schlicht nach Band statt Studio.

Wie das live rüberkommt, erfährt man in Europa ab Ende August 2024, wenn Zeal & Ardor auf Tournee für Heilung eröffnen, bevor es auf Headlining-Tour in die USA geht.

Zeal & Ardor – GREIF
Fazit
Wenn eine Band das System neu hochfährt, ist nicht mehr alles so wie vorher. Und genau darum ist hier alles eigentlich ganz genau wie bei Zeal & Ardor, denn GREIF ist ein Vulkanausbruch an Kreativität und Überraschungen.

Neben den härtesten und progressivsten Tönen, die jemals von diesem Projekt ausgingen, hat man auch derartig herzzerreißende Balladen, mit denen sie die Definition von Heaviness völlig auf den Kopf stellen, noch nie auf einer ihrer Platten gehört. Dazwischen vergnügen sie sich und uns mit deftigem Stoner, oder überraschen mit klug gesetzten Details und Effekten wie Synths und Hardcore-Sounds. Presst man das Ohr ganz fest an die Lautsprecher, mag man vereinzelt sogar ein paar blackgazige Gitarren vernehmen. Das alles geht so fantastisch ineinander über wie, nun ja, Black Metal und Spirituals. Wer die vertraute Version von Zeal & Ardor sucht, muss zu den drei Interludes und dem vorletzten Song skippen. Wer sich dagegen mit Zeal & Ardor vertraut machen möchte, skippt absolut nichts. Der Satanismus wird inhaltlich nur noch sporadisch angedeutet, ist dafür aber wesentlich lebendiger im kompromisslos durchgezogenen – sorry – Ziegen-Bockhaben auf Experimente und alles, was das Selbst verwirklicht.

Die Bandmitglieder sind live über die Jahre zu einer Einheit verschweißt und nun buchstäblich so aufeinander eingespielt, dass sie ihren Spielplatz im Studio gemeinsam gestaltet haben. Dem nun versechsfachten Enthusiasmus hört man eine Selbstverständlichkeit an, die im Kontext des heftigen Stilbruchs fast schon frech, vor allem aber authentisch ist. Auch in den traurigen Momenten des Albums ist das die reinste Freude!
Im Spiel mit den Hörerwartungen lenken Zeal & Ardor gekonnt auf Wege, wo sie uns ohne Vorwarnung seitlich attackieren und mit ungewöhnlichen Sounds zum Lachen oder einer musikalischen Abzweigung zum Mitfiebern bringen. Von diesem unheimlichen Gespür für Timing lebt auch die Dynamik der Songs, die anschwellen, abebben oder die Spannung bis ins Unerträgliche halten. Durch alle erdenklichen Stimmungen hindurch führt die Band ebenso geschickt mit minimalistischen Arrangements wie mit massiger Übereinanderschichtung von allem, was sie hat. Dabei balancieren sich die Kontraste perfekt aus oder verstärken sich gegenseitig: Die sanften Momente können einen dermaßen heftig erwischen, weil sie das vor Euphorie weit geöffnete Herz umso leichter in der Mitte treffen. Im Spannungsfeld zwischen Wucht und Feinsinnigkeit entwickeln sich jedoch nicht nur die Metal-„üblichen“ Gefühlsextreme, sondern auch komplexere innere Prozesse wie unterdrückter Ärger, Nachdenklichkeit oder die Sehnsucht nach Trost. So etwas hinzukriegen, zeugt von herausragendem songwriterischen und musikhandwerklichen Können, aber auch der Gewitztheit, durch Simplizität nichts zu forcieren. Jeder Track rüttelt auf völlig andere Weise an Hirn, Herz oder Nacken, und doch zieht sich die Handschrift von Zeal & Ardor so konsequent durch, dass das Album in sich absolut stimmig ist.

Mit GREIF wirft die Band den jahrelang in Magazinen mehr oder minder reflektiert wiedergekäuten Marketing-Pitch „Gospel meets Black Metal“ von sich. In dieser neuen Freiheit geben sie Eingängigkeit und Weirdness, großer Dynamik und kleinen Details, Komplexität und Katharsis, Härte und Verwundbarkeit einen gemeinsamen Nenner und schaffen etwas völlig Neues. Das titelgebende Mischwesen ist genau die richtige Visualisierung des Genre-Monsters Zeal & Ardor, das allen Erwartungen den Hintern zeigt – nur um sie zu übertreffen!

Mich hat lange nichts mehr so mitgenommen wie dieses Album, und mit einer Wertung von 0,2 unter dem Perfektionswert liegt die Messlatte wieder sehr hoch. Was der Band hoffentlich noch in vielen, vielen weiteren Releases herzlich egal sein wird.

Anspieltipps: Kilonova, Clawing out, Sugarcoat und Solace
Eva B.
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