Wheel – Resident Human

Das tiefe Luftholen kurz vorm großen Sprung

Artist: Wheel

Herkunft: Helsinki, Finnland

Album: Resident Human

Spiellänge: 51:52 Minuten

Genre: Progressive Metal, Progressive Rock

Release: 26.03.2021

Label: OMN Label Services

Link: https://www.facebook.com/wheelband/

Bandmitglieder:

Gesang und Gitarre – James Lascelles
Gitarre – Jussi Turunen
Bassgitarre – Aki “Conan” Virta
Schlagzeug – Santeri Saksala

Tracklist:

  1. Dissipating
  2. Movement
  3. Ascend
  4. Hyperion
  5. Fugue
  6. Resident Human
  7. Old Earth

„Why don’t you shut up and give me the medicine?“ aus der Bandhymne der Finnen Wheel passt irgendwie perfekt in die aktuelle Situation zum Thema Impfstoff. Bereits mit ihren ersten beiden EPs The Path und The Divide wirbelten Wheel mächtig Staub im Dunstkreis der Genres Artrock, Progressive Rock und Progressive Metal auf. Das Debütalbum Moving Backwards, welches vor zwei Jahren erschien, manifestierte den ambitionierten und düsteren Progsound des Quartetts um den britischen Sänger und Gitarristen James Lascelles. Der nach Finnland umgesiedelte Lascelles gründete 2015 die Band Wheel, zu deren Haupteinflüssen Bands wie Tool, Karnivool oder auch Radiohead zählen. Internationale Aufmerksamkeit wurde der Band durch ihre gemeinsame Europatour mit den Schweden von Soen zuteil. Mit den neuen Bandmitgliedern Aki “Conan” Virta am Bass und Jussi Turunen an der Gitarre, veröffentlichen Wheel am 26.03.2021 ihr zweites Werk Resident Human.

Lascelles sagte über die Thematik auf Resident Human: „Wir haben zu Beginn des Jahres gescherzt, dass es das Jahr der progressiven Konzeptalben über COVID werden wird und das haben wir auch irgendwie geschafft – aber es geht mehr um die Zeit, die COVID uns erlaubt hat, uns selbst zu erforschen, als um die Pandemie selbst.“ Der Sänger hatte ein Burn-out erlitten, was zur Verschiebung der Produktion des Albums führte. Dennoch sei er dankbar, denn diese Situation führte zu den „besten Texten des Albums“.

Trotz meiner Vorliebe für progressive Klänge und einige der genannten Bands, sind mir die Finnen bisher durch die Lappen gegangen (ja, ich freue mich sehr über dieses Wortspiel). Durch die musikalische Nähe muss sich Resident Human in meinem persönlichen Ranking mit dem starken Album Imperial der Tourkollegen von Soen messen. Vorschusslorbeeren erhalten Wheel für ihren Auftritt mit den unterbewerteten deutschen Rockern Van Holzen im Hamburger Headcrash: Diese Show konnte letztes Jahr Kollege Juergen F. überzeugen. Ebenfalls schön zu sehen ist eine Playlist namens Path Of The Wheel, die die Band auf Spotify veröffentlicht hat: Sie ist mit so verschiedenen Bands wie Porcupine Tree, Alice In Chains oder Meshuggah gespickt – genau mein Geschmack.

Machen wir uns ans Material: Sieben Songs in über 50 Minuten lassen mein Progherz schon mal höherschlagen. Die ersten sanften Töne des 12-minütigen Openers Dissipating erklingen und die Drums erschallen, ehe Sänger James ins Geschehen eingreift. Er hat eine wirklich schöne, harmonische Stimme, die jedoch nicht an Größen wie Maynard James Keenan (Tool, A Perfect Circle) oder Joel Ekelöf (Soen) heranreicht. Der Sound gibt sich organisch und nicht totproduziert, jedes Instrument bekommt seinen Platz. Die düstere Grundstimmung zieht sich durch das ganze Album. Die ersten sechs Minuten sollen einen Spannungsbogen aufbauen, ziehen sich jedoch etwas. In der zweiten Hälfte wird der Ton etwas rauer. James Lascelles dreht etwas mehr auf, der Bass knarzt und von einem 4/4-Takt hält Drummer Santeri Saksala rein gar nichts. Guter Einstieg, aber noch keine zügellose Begeisterung.

Movement ist die erste Single auf Resident Human und behandelt die polarisierende Rhetorik um die Black Lives Matter Bewegung, die durch den Tod von George Floyd in den Fokus der Medien rückte. Härtetechnisch legen Wheel in den gut viereinhalb Minuten einen Zahn zu. Nach einer gewissen Achterbahnfahrt der Gefühle sorgt vor allem das letzte Drittel des Songs für erste Jubelstürme. Das abgefahrene Drumming duelliert sich mit polyrhythmischen Gitarrenriffs und mich hält nichts mehr auf dem Bürostuhl.

Ascend ist mit 4:33 Minuten exakt so lang wie sein Vorgänger. Auch das Level des Härtegrades bleibt relativ weit oben. Je aggressiver die Stimme von Frontmann James ertönt, desto angetaner bin ich davon. Wären nicht zahlreiche progressive Einschübe im Sound der Finnen vorhanden, so könnte man zu Beginn des Songs auch von Alternative Rock/Metal sprechen. Doch dafür haben die Herren zu oft mit Dissonanzen gegurgelt. Einmal mehr muss ich an dieser Stelle das unfassbare Schlagzeugspiel von Santeri Saksala in den Vordergrund stellen. Hinter oft zitierten Drummern wie Danny Carey (Tool) oder Ray Hearne (Haken) muss sich der Finne nicht verstecken.

Der nächste Longtrack trägt den Titel Hyperion und spätestens jetzt sind die Vergleiche mit Tool nicht mehr von der Hand zu weisen. Wheel schaffen es jedoch, mit starken Gesangspassagen und einer unbändigen Experimentierfreude jeden Plagiatsvorwurf im Keim zu ersticken. Im direkten Vergleich zu Dissipating bringt Hyperion genau die Abwechslung mit, die ich von einem langen Stück erwarte. Jede Sekunde hat ihre Daseinsberechtigung. Inhaltlich wurde der Song durch Dan Simmons Romanreihe Die Hyperion-Gesänge inspiriert und verarbeitet die Beziehung der Menschheit zur eigenen Sterblichkeit: „We’ll chase the sinking sun, united in oblivion.“ Tiefgründige Lyrics, die genau wie die Musik ein gewisses Maß an Zeitaufwand erfordern, um sie zu ergründen.

Schlagzeug und Bass dominieren den Einstieg von Fugue, der mit fast verschwommenen Gesangsharmonien untermalt wird. Ab Minute zwei wird wieder etwas mehr aufgedreht, lediglich das Leitmotiv bleibt gleich. Der Song ist das positive und negative Merkmal von Resident Human zugleich. Er hebt sich nicht besonders ab, fügt sich aber wiederum perfekt ins Gesamtkonzept ein.

Wir kommen zum Titelstück und dem dritten „Langläufer“ Resident Human. Die sphärischen Soundeffekte zu Beginn wirken unheilvoll und die Gitarrenmelodien sehr abgespact. Bass und Drums bestimmen wieder, wo es langgeht, ehe sich alle Instrumente wiedervereinen. Wie schon auf dem Rest des Albums wird dem Hörer immer wieder Luft zum Atmen gelassen, anstatt alles in progressivem Gefrickel zu ertränken. Wheel teasern durch ruhige Passagen immer wieder geschickt den nächsten Part an. Das tiefe Luftholen vor dem großen Sprung ist in diesem Fall der letzte Akt von Resident Human, in dem sich alle Bandmitglieder noch mal nach Herzenslust austoben dürfen. Das vom Klavier getragene Outro Old Earth, gibt dem geforderten Hörer die Chance, alles zu verarbeiten.

Wheel – Resident Human
Fazit
Als Gesamtwerk lässt sich Resident Human sehr gut konsumieren und sollte jedem Fan von Bands wie Tool, Karnivool oder Soen schmecken. Das Einzige, was hier zu einem absolut unverzichtbaren Werk fehlt, ist eine Art Genrehit. Ein Song, der unwiderruflich mit der Band verknüpft ist. Sollten Wheel auf diesem Weg weitermachen oder sogar noch was obendrauf setzen können, werden sie wohl über Jahre in einem Atemzug mit den ganz großen Bands der progressiven Genres genannt werden.

Anspieltipps: Movement und Hyperion
Florian W.
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