Wilderun – Epigone

Symphonischer Prog der Königsklasse

Artist: Wilderun

Herkunft: Boston, Massachusetts, USA

Album: Epigone

Spiellänge: 62:42 Minuten

Genre: Progressive Metal, Symphonic Metal

Release: 07.01.2022

Label: Century Media Records

Link: https://www.facebook.com/OfficialWilderun

Bandmitglieder:

Gesang, Gitarre und Piano – Evan Anderson Berry
Gitarre – Joe Gettler
Bassgitarre, Synthesizer, Orchestrierung – Dan Muller
Orchestrierung – Wayne Ingram
Schlagzeug – Jon Teachey

Tracklist:

  1. Exhaler
  2. Woolgatherer
  3. Passenger
  4. Identifier
  5. Ambition
  6. Distraction I
  7. Distraction II
  8. Distraction III
  9. Distraction Nulla

Das Album Veil Of Imagination der Bostoner Wilderun war für mich persönlich DIE Überraschung des Jahres 2019. Dank einer Empfehlung von Schreiberkollege Angry Metal Guy stieß ich erstmals auf den Namen Wilderun und das besagte Album wich mindestens ein Jahr lang nicht mehr aus meinem Player. Der symphonische Prog Metal mit Folk-Einschüben ist etwas, das ich in der Form zuvor noch nicht gehört hatte. Dazu kommt der an Opeth erinnernde Wechselgesang zwischen melodisch, warm und guttural. Umso schöner, dass jetzt Album Nummer vier namens Epigone via Century Media erscheint. Das Line-Up des Quintetts hat Bestand gehalten, obwohl der Schreibprozess im Jahr 2020 aus den bekannten Gründen unter erschwerten Bedingungen stattfand. Schwamm die Band nach dem Deal mit Century Media und dem Auftritt auf dem legendären 70.000 Tons Of Metal auf einer Welle des Erfolgs, so machte die Pandemie ihnen, wie so vielen anderen auch, einen dicken Strich durch die Rechnung. Die Zeit der Einsamkeit beim Songwriting spiegelt sich in den selbstreflektierten Songs auf Epigone wider. Keine Weiterführung des gefeierten Albums Veil Of Imagination, sondern eine Weiterentwicklung des Bandsounds und das Eindringen in tiefere Regionen der Seele. Kann das neue Werk einen ähnlich bleibenden Eindruck hinterlassen wie sein Vorgänger?

Photo Credit: Tom Couture Photography

Die eindringliche Akustiknummer Exhaler öffnet die Pforten zum neuen Reich von Wilderun. Die warmen Vocals von Evan Berry kriechen durch Mark und Bein. Nachdem die gezupften Saiten der Gitarre dominieren, gesellt sich langsam der bekannte und geschmackvolle Anteil der Streicher hinzu. Ruhiger Progressive Rock, der die Sinne berührt. Diese introvertierte Art war ich von den Amerikanern bisher nicht gewohnt. Gerne mehr davon. Der erste Longtrack Woolgatherer bleibt zunächst in ruhigen Gewässern und baut den Spannungsbogen langsam auf, bevor der Hörer durch ein schönes Wechselspiel zwischen bombastischen und akustischen Elementen gefesselt wird. Nach wenigen Minuten wird es durch die Hinzunahme von Growls und Blastbeats deutlich dramatischer. Schon mit den ersten aufgesogenen Klängen merkt man, dass es sich um den unverkennbaren Wilderun-Sound handelt. Die Band geht allerdings nicht auf Nummer sicher, sondern verpasst ihren Kompositionen einen düsteren Anstrich. Der kurze Part ab Minute 9:00 hat etwas Majestätisches an sich und danach zeigen Drummer Jon Teachey und Gitarrist Joe Gettler ihr ganzes Können, das in Breitwand-Chören gipfelt. Danach geht es kurz zurück zum Anfang und die wiederkehrenden Zitate sind für Progfans ein gerne gesehener Gast. Ein beeindruckender Start in das neue Kapitel von Wilderun.

Einen großen Schluck aus dem Kelch mit der Aufschrift Bombast genehmigt sich der nächste Titel Passenger. Trotz der vielen Details bleibt der Song direkt im Gedächtnis hängen. Laut-leise Dynamik, die mal vom Orchester und mal von den riffunterlegten Growls dominiert wird. Im Vergleich zu Veil Of Imagination gönnt sich die Band öfter mal eine Pause, um tief durchzuatmen und zum nächsten Schlag auszuholen. Das gefällt mir ausgesprochen gut. So hat man das Gefühl, viel zu entdecken und gleichzeitig muss man nicht überfordert auf ein schnelles Ende hoffen. Identifier tritt deutlich melodischer auf den Plan, zumindest was das harmonische Gitarrenspiel angeht. Zwischendurch werden immer wieder „verrückte“ Elemente mit verzerrtem Gesang und wilden Synths eingestreut. Da ich gerade erst das aktuelle Cynic-Album zum Review hier hatte, sind die Parallelen nicht von der Hand zu weisen. Generell könnte man Wilderun auch immer wieder mit Bands wie Opeth oder Devin Townsend vergleichen. Das würde dem eigenständigen Sound der Bostoner jedoch nicht gerecht werden. Das abstrakte Intermezzo Ambition leitet das große Finale ein.

Dieses Grande Finale hat es wirklich in sich. Das knapp zwanzigminütige Distraction unterteilt sich in vier Abschnitte. Hier wird nicht einfach nur das bisher Gebotene zusammengefasst, nein, Wilderun definieren sich mal eben neu, ohne das Gesamtkonzept von Epigone zu gefährden. Der erste Part wird von Evan Berrys warmen Gesangsharmonien getragen, um dann im zweiten Akt in einer cineastischen Prog-Supernova zu explodieren. Das Hauptriff ist einfach nur genial und man merkt beim wechselnden Gesang, dass sich Berry in den letzten Jahren sogar noch steigern konnte. Obwohl Teil drei schon auf mich wartet, zuckt mein Finger nervös auf der Repeat-Taste. Das fesselnde Finale ist einfach nur magisch. Distraction III reißt mich regelrecht aus dieser Ekstase und erdet mich mit wärmenden Synthesizer-Klängen. Die beruhigenden Klanglandschaften vermitteln einen harten Szenenwechsel wie in einem epischen Hollywood-Abenteuer. Die Gitarrenmelodien im Mittelteil werden zu keiner Sekunde langweilig und werden wieder kunstvoll mit Orchesterparts umhüllt. Das Instrumental Distraction Nulla ist der letzte Teil und haut als Rausschmeißer des Albums noch mal richtig auf den Putz. Ja, lasst alles raus: Die Wut, die Emotionen, die während dieser hässlichen Pandemie angestaut wurden. Ein wilder Ritt zum Abschluss eines majestätischen Werks und der beste Mehrteiler seit Hakens Messiah Complex.

Wilderun – Epigone
Fazit
Um meine Eingangsfrage wieder aufzugreifen: Ja, Wilderun können mit ihrem vierten Album erneut einen bleibenden Eindruck hinterlassen und sind schon früh ein Anwärter auf die Top 5 des Jahres. Der eigenständige Mix aus Prog, Folk und geschmackvollem Symphonic Metal sollte jedem geneigten Hörer von Opeth über Cynic bis Devin Townsend Freude bereiten. Aufgrund der vermehrten ruhigen Momente ist Epigone sogar noch einen Tick besser als sein starker Vorgänger Veil Of Imagination. Symphonic Prog at its best.

Anspieltipps: Woolgatherer, Passenger und Distraction I-IV
Florian W.
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