Artist: Kayo Dot
Herkunft: USA
Album: Every Rock, Every Half-Truth Under Reason
Spiellänge: 65:59 Minuten
Genre: Progressive Metal, Avantgarde Metal, Drone
Release: 01.08.2025
Label: Prophecy Productions
Link: www.kayodot.net
Bandmitglieder:
Gesang, Gitarre, Bass, Keyboards, Orgel, Klarinette, Flöte, Schlagzeug – Toby Driver
Gitarre – Greg Massi
Gitarre – Matthew Serra
Schlagzeug, Vibraphone, Percussion – Sam Gutterman
Klarinette, Saxophone, Flöte – Terran Olson
Percussion – David Bodie
Gastmusiker:
Gesang (Track 3) – Jason Byron
Tracklist:
- Mental Shed
- Oracle By Severed Head
- Closet Door In The Room Where She Died
- Automatic Writing
- Blind Creature Of Slime
Mit ihrem elften Studioalbum kehren Kayo Dot auf die Bildfläche zurück – und zwar so kompromisslos wie nie zuvor. Bereits am 1. August 2025 über das stilprägende Label Prophecy Productions als CD, CD-Artbook und in den Vinylvarianten Black und White/Black Marble (500 Stück) veröffentlicht, knüpft das Werk nicht nur an die avantgardistische Tradition der Band an, sondern verfestigt sie als konsequent experimentelle Ausnahmeerscheinung.
Dass Kayo Dot sich im Laufe der Jahre immer wieder neu erfunden haben, ist bekannt – und auch diesmal steht keine Wiederholung, sondern radikale Weiterentwicklung im Fokus. Besonders spannend: Zum zwanzigjährigen Jubiläum ihres Debüts Choirs Of The Eye wurde das damalige Line-Up wieder zusammengeführt. Trotz allem bleibt klar: Toby Driver ist der zentrale Motor dieses Projekts. Seine Handschrift durchzieht das Werk in jeder Nuance – als Multiinstrumentalist, Komponist und Vokalist prägt er das Album inhaltlich wie emotional.
Bereits der eröffnende Track Mental Shed zeigt, wohin die Reise geht: Orgelklänge ziehen sich wie Nebelschwaden durch die Komposition, lose Beckenakzente flirren dazwischen. Eine düstere Stimme rezitiert mit brüchiger Wucht. Alles wirkt bedrohlich entschleunigt, wie aus einem Fiebertraum. Ähnlich geisterhaft und lose bleibt Oracle By Severed Head. Gitarrenfetzen, vereinzelte Bläser und Streicher scheinen frei im Raum zu schweben. Struktur sucht man hier vergeblich, was zählt, ist Atmosphäre – eindringlich, formlos, meditativ. Tobi Drivers Gesang wechselt zwischen sakralem Lamentieren und existentiellem Aufbegehren. Düster und entrückt!

Mit dem knapp 15-minütigen Closet Door In The Room Where She Died betritt das Album endgültig seine zerklüfteten Abgründe. Wie eine Echokammer hallt der Klang nach – erneut dominieren Orgelwellen, punktuell durchzogen von dezenten Bläsern. Die gesprochene Stimme wirkt diesmal noch dringlicher, beinahe flehend, als würde sie einen letzten Versuch unternehmen, sich Gehör zu verschaffen. Automatic Writing, mit über zwanzig Minuten Spielzeit das Herzstück des Albums, ist vielleicht der konsequenteste Ausdruck der Verweigerung von Form. Hier gibt es kein Tempo, keinen Takt, keine Melodie im herkömmlichen Sinne – nur Tobi Drivers Stimme, schwebend über einem weiten, kaum greifbaren Klangraum. Gitarre, Orgel, Schlagzeug: Alles existiert hier als Fragmente, nicht als Bausteine. Wer loslassen kann, wird belohnt mit einer intensiven, fast meditativen Hörerfahrung – wer nach Orientierung sucht, bleibt im Nebel.
Das finale Stück Blind Creature Of Slime bringt einen Hauch von Struktur zurück – zumindest im Vergleich zu den vorherigen Klanglandschaften. Hier greifen die Elemente etwas fester ineinander, Gitarren und Vocals treten stärker hervor, auch die Dynamik gewinnt an Gewicht. Doch auch hier bleibt die Musik ein Aufbäumen gegen Form, gegen Erwartung, gegen Konvention. Ein wuchtiger, intensiver Abschluss, der Spuren hinterlässt.
Was Every Rock, Every Half-Truth Under Reason so besonders macht, ist seine kompromisslose Haltung: Kayo Dot wenden sich ab von allem, was man als „Rock“ oder „Metal“ bezeichnen könnte – bewusst, mutig, vielleicht auch provokant. Es gibt keine eingängigen Refrains, keine vorgefertigten Spannungsbögen, keine „Hits“. Stattdessen begegnet man einer Musik, die eher Installation als Song ist, eher Kunstperformance als Album. Tobi Driver orientiert sich an Techniken abseits traditioneller Kompositionslehre, sucht das Freie, das Unfassbare. Für manche Hörer*innen mag das verstörend wirken. Für andere – wie mich – liegt gerade darin der Reiz: in der Grenzüberschreitung, im Formlosen, in der Offenheit. Wer sich auf das Album einlässt, wird nicht unterhalten, sondern herausgefordert. Und genau das macht es so stark.
Besonders beeindruckend war für mich die Live-Umsetzung, die ich im September in der Balver Höhle beim Prophecy Fest erleben durfte. Dort verschmolz die Musik mit der mystischen Atmosphäre des Ortes zu einem Erlebnis, das weit über ein Konzert hinausging. Auch hier gab es anschließend Hörer*innen, die verstört wirkten 🙂




