Caligula’s Horse – Charcoal Grace

Ich atme und die Welt atmet mit mir

Artist: Caligula’s Horse

Herkunft: Brisbane, Australien

Album: Charcoal Grace

Spiellänge: 61:56 Minuten

Genre: Progressive Metal

Release: 26.01.2024

Label: InsideOut Music

Link: https://caligulashorse.com/

Bandmitglieder:

Gesang – Jim Grey
Gitarre – Sam Vallen
Bassgitarre – Dale Prinsse
Schlagzeug – Josh Griffin

Tracklist:

  1. The World Breathes With Me
  2. Golem
  3. Charcoal Grace I: Prey
  4. Charcoal Grace II: A World Without
  5. Charcoal Grace III: Vigil
  6. Charcoal Grace IV: Give Me Hell
  7. Sails
  8. The Stormchaser
  9. Mute

Es sind schon einige Monde vergangen, seitdem ich das erste Mal mit den Australiern In Contact (2017) getreten bin. In einer persönlich schweren Zeit war das besagte Album mit dem hochemotionalen Konzept über Künstler und ihre Werke so etwas wie ein Netz, das mich auffing und mich lange begleitete. Obwohl mich sowohl die Vorgängerwerke Bloom und The Tide, The Thief & River’s End als auch die Alben von Jim Greys inzwischen zu Grabe getragener Band Arcane vollends überzeugen konnten, gab es einen kleinen Bruch in meiner Beziehung zur Band. Das von zahlreichen Kritikerkollegen gelobte Rise Radiant (2020) konnte mich auf emotionaler Ebene nie wirklich abholen. Kann das Feuer mit dem sechsten Streich namens Charcoal Grace wieder neu entfacht werden? Schließlich hat sich das australische Quartett, welches einst von Sänger Jim Grey und Multiinstrumentalist Sam Vallen aus der Taufe geholt wurde, inzwischen zu einem Zugpferd der Prog-Metal-Szene gemausert und darf in einem Atemzug mit anderen Schwergewichten wie Haken oder Tesseract genannt werden.

Die ersten drei Singles ließen schon erahnen, in welche Richtung das neueste Werk gehen würde: schwer und düster in Lyrik und Musik. Passend zu den Schattierungen, die man von der Farbe charcoal erwartet. Laut der Band handelt es sich bei den Themen um eine Art Verarbeitung der Pandemiejahre. Das Gefühl der Macht- und Hoffnungslosigkeit, das viele von uns fest im Griff hatte, soll nun einer Katharsis weichen. Wie verhält sich ein Mensch unter den Zwängen, die eine Pandemie nebst politischen Entscheidungen mit sich bringt? Die nächste Stunde dieser musikalischen Reise wird Antworten mit sich bringen.

Im Opener The World Breathes With Me bewegen sich die Instrumente zunächst wellenförmig und ich meine, die Wogen eines Ozeans zu vernehmen. Nach kurzer Aufwärmphase reißen mich dichte Townsendsche Gitarrenwände aus meinen Träumen. Der Istzustand: Haben wir genug Zeit mit Nichtstun verbracht und der Welt beim Untergehen zugeschaut? Jeder darf sich an dieser Stelle gerne selbst hinterfragen oder wahlweise seine Nackenmuskeln im Takt der Riffs schwingen. Immer wieder durchbricht ein Sonnenstrahl die dichte Wolkendecke und gibt Hoffnung. Die kleinen akustischen Verschnaufpausen tun der Nummer sichtlich gut und halten über die gesamten zehn Minuten die Stellung. Die glasklare und dennoch satt pumpende Produktion tut ihr Übriges. Das Team um Jared Adlam und Forrester Savell hat hier ganze Arbeit geleistet.

Golem zimmert einem ohne Umschweife einen Knoten unter die Hirnrinde. Schwere Stakkato-Riffs dominieren das Szenario, das die eigene Erwartungshaltung während der Pandemie umschreibt. Wie wird die Zeit danach aussehen? Wie erschaffe ich als Künstler mein nächstes Werk? Markerschütternde Schreie wechseln sich mit optimistisch angehauchten Passagen ab, sodass sich die Schlinge um den Hals nicht vollends zuzieht.

Das Kernstück des Albums bildet die vierteilige Charcoal-Grace-Suite. Wabernde Nebelschwaden ziehen in Prey in Form von dröhnenden Elektroklängen am Horizont auf, ehe Gitarrenmelodien versuchen, das dichte Konstrukt zu durchbrechen. Frontmann Jim Grey wartet mit seinen fragilsten Gesangspassagen auf und verfällt nach kurzer Zeit in eine Art gesanglichen Trancezustand. Obwohl er seine Texte stets metaphorisch anlegt, fühlt man sich vom Protagonisten in den Kontext eingebunden. Vom Sprechgesang bis hin zu den höchsten Tönen ruft Grey sein volles Potenzial ab und spätestens mit den Zeilen „So go on, raise your hands, sing hallelujah“ schießen mir Tränen in die Augen – fühle ich!

Die viel zitierte Achterbahn der Gefühle wird von den Australiern mal schnell, mal langsam, vorwärts und rückwärts bis zur Materialermüdung geritten. Etwas gemäßigter geht die Fahrt in A World Without mit hohem Akustikanteil weiter und die Band beweist wieder einmal, dass man keine Stunde Vollgas geben muss, um den Hörer mit Reizüberflutung zu gängeln. Noch introvertierter präsentiert sich anschließend Vigil mit komplett zurückgefahrener Instrumentierung und ebnet so den Weg zum großen Finale namens Give Me Hell. Wie ein Prediger betet Jim Grey die ersten Zeilen dieses Verses auf bedrohliche Art und Weise herunter. Trompeten und Streichinstrumente bauen den Spannungsbogen weiter auf, bevor sich nach einem tiefen Luftholen alles in einem Riffgewitter entlädt. Hier kocht das Höllenfeuer auf höchster Flamme.

Puh, erst mal wieder herunterkommen nach diesem Trip. Da kommen die sanften Melodien von Sails genau richtig. Die mehrstimmigen Gesangsharmonien im Wechsel mit den schon fast geflüsterten Zeilen haben etwas Beruhigendes an sich. Die geschmackvollen Soli runden den Track ab und es wird Zeit, den Hauptsongwriter und Gitarristen Sam Vallen etwas mehr ins Rampenlicht zu stellen. Warum der Dude nicht in sämtlichen Rankings zu den „besten Gitarristen des Prog“ auftaucht, ist mir ein Rätsel.

Stormchaser hat schon etwas Vorsprung, weil ich diese Single seit dem Erscheinen vor wenigen Wochen „gesuchtet“ habe. Ich könnte allein ein Buch über die Melodie im Intro und die darauffolgenden Drumbeats schreiben. Dieser Melodiebogen, der dann sanft in die entzückende Gesangsmelodie mündet – hach, Prog ist doch was Feines. Und dann? Bluesige Soli, traumwandlerische Melancholie und ein perfektes Crescendo zum Finale. Flo sehr glücklich!

Und was haben die Australier zum großen Schlussakt aufgefahren? Lauter, schneller, härter? Mitnichten, denn hier wird zwölf Minuten lang auf Mute gedrückt. Na ja, zum Glück nur im übertragenen Sinn. Zunächst mal gibt es jedoch kurzzeitig mehr von allem: Orchestrale Instrumente zur Untermalung, Sam Vallen darf wieder einmal alle Pfeile aus dem Köcher schießen, bevor wieder Ruhe einkehrt. Ohne Effekthascherei wird immer wieder das Ruder herumgerissen, um den Hörer mit Stakkato-Geballer und gekonnten Nadelstichen bei der Stange zu halten. Der endgültige Befreiungsschlag gelingt und jeder kann seinen Emotionen freien Lauf lassen. Ein fulminanter Paukenschlag zum Ausklang des Albums. Spielt dasselbe Album noch mal!

Caligula’s Horse – Charcoal Grace
Fazit
Wie anmutig erscheint eine Farbe, die wir nicht unbedingt als anmutig wahrnehmen? Die Nuancen von Charcoal Grace sind berührend, tiefgreifend, anspruchsvoll und atemberaubend. Das Schöne ist, dass sich Caligula’s Horse zu keiner Sekunde nur auf die vierteilige Suite inmitten des Albums verlassen, sondern über die gesamte Spielzeit hinweg das Niveau hochhalten können. Das eigene Schicksal verarbeitend, bahnen sich die Australier weiter ihren Weg gen Prog-Metal-Olymp. Highlight zum Jahresbeginn!

Anspieltipps: The World Breathes With Me, Charcoal Grace I: Prey und The Stormchaser
Leser Bewertung1 Bewertung
9
9
Punkte