Wacken, 31.07.2020 – Was ist zu Corona los auf dem Heiligen Acker?

Wacken World Wide interessiert hier vor Ort nur wenig

Eventname: Wacken World Wide Livestream 2020

Ort: Wacken, Schleswig-Holstein, Deutschland

Datum: 31.07.2020

Genre: Heavy Metal Town

Seit Tagen nur Dosenbier und Wacken Open Air aus der Konserve. Ich habe die Schnauze voll!

Gestern die Nacht vor dem Fernseher verbracht. Zwei Konzertberichte vom Wacken Online geschrieben, Bands geschaut, die man nicht mag, Bands geschaut, die man mag, zu viel getrunken. Fuck of Corinna – ich muss nach Wacken!!!

Es ist Freitag und man hat Urlaub. Schließlich wäre Festivalzeit. Kein Reload, kein Wacken, kein Baltic, kein Blizzard und auch keine kleineren Feste und Festivals. Es ist Mittag und nix los. Livestream läuft noch nicht, auf Konserve habe ich kein Bock, werde dann wieder melancholisch. So wie gestern bei Alice Cooper oder Nightwish. Da stand ich damals jeweils im Fotograben. Würde dort heute mit gefühlt hundert Kollegen wieder stehen. Also Kamera geschnappt und ab ins Auto. Der Weg ist das Ziel und die Nordsee nicht weit. Wat´n Quatsch, ich wohne 15 Autominuten vom Strand der Ostsee entfernt, der Nord-Ostsee-Kanal ist zu Fuß ebenfalls in 15 Minuten zu erreichen. Wenn ich an die Nordsee komme, ist das Wasser eh grad´ nicht da… Egal. Hirn ist grad aus. Ich fahr´ los. Ich habe plötzlich ein Bild vor Augen. Das will ich fotografieren, aber geht das überhaupt? Steht der rostige Wacken-Schriftzug eigentlich auf dem Feld, wo ich ihn das letzte Mal gesehen habe? Ist die Dorfstraße offen? Wen treffe ich unterwegs?

Holger Hübner und Thomas Jensen, die Macher vom Wacken Open Air, haben eindringlich darum gebeten, zu Hause zu bleiben und Wacken nicht zu besuchen. Nun tue ich es trotzdem. Der Landgasthof „Zur Post“, besser bekannt als das Wackinger, hat geschrieben, man kann das Wacken World Wide auch bei ihnen schauen. Und sonst? Wie gehen die Shops, wie gehen die Anwohner damit um? Sind trotzdem Verrückte da, die wie ich nicht darauf verzichten können? Was erwartet mich auf den riesigen Geländeflächen?

Der Biergarten im Wackinger ist voll besetzt.

Schenefeld, Aldi. Hier treffen wir uns normalerweise immer am Mittwoch um 9:00 Uhr. Sammeln, Frühstück, letzte Vorräte einkaufen. Nix los. 26 Grad und blauer Himmel. Keine Polizei, die den Verkehr an der Ampel regelt. Also weiter. Das Navi steht auf Reselithweg. Hier bekommen wir immer unsere Pressebändchen. Seit 2006 bin ich immer hierher gefahren und tue es auch heute. Irgendwie irre. Niemand da. Kein Bändchen… Weiter die Straße rauf. Ich biege rechts ab. Wacken Schule. Keine Absperrungen, keine Nightliner hinter schwarzer Folie. Der Gastro-Parkplatz leer und verwaist, genau wie der Campingplatz für VIP und Presse. Ich drehe um. Erst mal zur Wacken Brauerei. Ich brauche jetzt ein Erfolgserlebnis. Der Parkplatz leer. Keine Bierbänke, der Schankraum zu. F…. – ich brauch´…. ! Der benachbarte Shop hat auf. Endlich ein Lichtblick! Chef hat demnächst Geburtstag und bekommt einen schicken Holzkasten mit neun verschiedenen Beer of Gods. Aus dem Sonderangebot gibt es noch nen Kasten Sleipnir für zu Hause.

Die Old Metal Bar hat zu.

So. Der Kopf ist wieder auf Linie. Links ab zur Dorfstraße. Mit offenem Fenster rechts in die Dorfstraße und…. nix los. Ich blicke auf die Sitzplätze vor dem Wackinger und: DA SIND SIE!!! Kein Platz frei, alle zu belegenden Plätze sind mit schwarz gekleideten Metalheads belegt. Über der Tür prangt das alt bekannte Schild. „Freu dich, du bist in Wacken!“ Wacken-Shirts aus den Jahren 2014 bis 2020 strahlen mir entgegen. 2020? Irgendwas irritiert mich da!

Der Wacken-Shop

Ach so. Wacken World Wide, die Realität holt mich wieder ein. Also weiter die Hauptstraße des Mekkas rauf in Richtung Gribbohm. Der Wacken Outlet hat auf, keine Dixies vor der Kirche, der kleine Edeka hat zu, vor dem Döner ist ne Schlange und an der Old Metal Bar, wo sonst immer die Skelette zum Schnaps einladen, sitzen die Betreiber und schnacken mit der Wacken Feuerwehr! Aber Schnaps, den gibt es da heute nicht… Also weiter. Der Wacken Shop ist frequentiert. 25 Leute stehen vor dem Eingang, Wartezeit zum Einlass knapp ne Stunde. Das gebe ich mir heute nicht. Vor der Bus-Endstation, die heute mit Bauzaun abgesperrt und mit Containern belagert ist, rechts ab. Eingeweihte wissen, da sind die Kuhle und der heilige Acker. Keiner hält mich auf. Ich fahre um die Kurve und halte an. Zwischen mir und dem Eingangsgebilde zum Backstage, einem riesigen rostigen Kreis aus Stahl, steht kein Sicherheitsmann sondern ein Bauzaun. Unten Stille und kein Mensch zu sehen. Ich wechsle die Straßenseite und schaue auf die Fläche, wo sonst die drei Hauptbühnen stehen.

Die eingezäunte, leere Kuhle. Hier ist sonst der Backstage-Bereich der Hauptbühnen.

Einsam dreht ein Traktor (nein, nicht der Psycho-Traktor von Russkaja!) seine Runden und mäht das Gras. Ich fange an zu weinen. Ab zum Auto. Mein Wacken-mp3-Mix beginnt Ace Of Spades zu spielen. Nein, bitte nicht jetzt auch noch Motörhead! Ich nehme Kurs auf den nächsten sichtbaren Anlaufpunkt, der hölzernen Pommesgabel. Auch hier hindert mich ein Bauzaun vor dem betreten des Ackers. Keine Fans weit und breit. Auf der Straße kommt ein Trecker vorbei. Der Fahrer sieht mein mit Schädel und alten Zufahrtsaufklebern beklebten Wagen und brüllt mir ein „traurig, wa?“ entgegen. Muntert mich nicht gerade auf, der gute Mann. Ich fahre wieder die Dorfstraße entlang. Erst mal an die Tanke! Diesel für ´n Euro den Liter. Zumindest meine Kreditkarte freut sich. Ich fahre zielstrebig den Dorfkrug an. Keine Polizei, keine Absperrungen, keine Menschen, viele Parkplätze.

Guten Appetit!

Dorf halt, wie an einem ganz normalen Freitagnachmittag. An der Eingangstür das freudige Erwachen! Die Dame vom Sicherheitspersonal, die sonst bei unserem Presse-Campground für Einlass sorgt, steht da und erkennt einen trotz fucking Gesichtsmaske. Wieder rinnen die Tränen, diesmal vor Freude! Ein Gast spendiert den beiden Secus gerade ein Eis aus der Eisdiele gegenüber. Einlass ist in den Wackinger nur mit Tischreservierung. Der vordere Biergarten ist noch immer proppevoll, der Biergarten im Garten total leer. Im Saal beginnt gerade der Livestream vom Wacken World Wide. An Tisch 70 sitzen (fast) alle schleswig-holsteinischen Mitglieder des Thundermother Fanclubs, die sich eigentlich den Stream der Band an geeigneter Stelle anschauen wollten. Leider wurde der gestrichen, aber das Treffen blieb bestehen. Nun gibt es Burger und Currywurst, während die vier Schwedinnen in Holtebüttel bei Bremen ihr Release feiern.

Entspanntes Einkaufen bei günstigen Preisen.

Der Outletstore ist gleich nebenan. Alte Wacken-Shirts für einen Fünfer? Zipper von 2018 für 15 Euro? Hallo? Was sind das denn für Preise? Ich decke mich ein und bekomme hier sogar ein 2020er Festivalbändchen um’s Handgelenk. Einzig die Preise der Gesichtsmasken hatten starke Inflation. Konnte man die Masken vor zwei Jahren noch als Staubschutz für 50 Cent bekommen, kosten sie heute neun Euro. Profit muss sein… Da immer nur sechs Leute in den Laden dürfen, ist es ein entspanntes Einkaufen. Ein betrunkener Italiener, der nicht auf das Feeling verzichten möchte, im Dorf campende Thüringer, die bei ihrem Bauern schon seit 15 Jahren mit dem WoMo hinterm Haus stehen und nicht darauf verzichten wollen, ein Bayer, der sein Dosenbier brav im Papierkorb versenkt aber seinen Döner auf dem Bürgersteig verteilt, sind Unterhaltung für die nächsten Minuten.

Wacken World Wide im Wackinger. Viel Spaß Leute!

Zurück im Dorfkrug werde ich wieder sentimental, denn Arch Enemy flimmern gerade aus der Konserve über den Bildschirm. Auch bei diesem Konzert stand ich im Fotograben und hatte Stunden vorher das Vergnügen, Alissa White-Gluz bei einer Pressekonferenz persönlich kennenzulernen. Ich habe genug, quatsche noch ein wenig mit den Thundermother-Fans, die ich ja fast alle nächste Woche bei einem der Releasekonzerte wiedersehe und trete den Heimweg an.

Jetzt ist mir klar, warum Holger und Thomas gebeten haben, nicht nach Wacken zu kommen. Es wird klar, die Infrastruktur gibt einiges nicht her. Die nicht vorhandenen Pfandsammler räumen nicht die achtlos weggeworfenen Flaschen und Dosen weg, die Secus haben Probleme mit den Wildpinklern und die Corona-Auflagen sind bei alkoholisierten Gästen schwer umzusetzen. Sentimental darf man nicht an den Besuch herangehen und Geld gibt man trotzdem aus: Trotz allem war es ein entspannter Nachmittag in Heavy Metal Town. Auf jeden Fall bot der Nachmittag Stoff für eine nicht ganz so ernst gemeinte Story und ein paar schöne Fotos….