Artist: Böhse Onkelz
Herkunft: Deutschland
Album: Böhse Onkelz
Spiellänge: 55:11 Minuten
Genre: Rock
Release: 28.02.2020
Label: Matapaloz
Link: https://wwww.onkelz.de
Bandmitglieder:
Gesang – Kevin Russell
Bass – Stephan Weidner
Gitarre – Matt „Gonzo“ Roehr
Drums – Peter „Pe“ Schorowsky
Tracklist:
1. Prolog
2. Kuchen Und Bier
3. Des Bruders Hüter
4. Ein Hoch Auf Die Toten
5. Prawda
6. Saufen Ist Wie Weinen
7. Wie Aus Der Sage
8. Du Hasst Mich! Ich Mag Das!
9. Rennt!
10. Wer Schön Sein Will Muss Lachen
11. Der Hund Den Keiner Will
12. Flügel Für Dich
13. Die Erinnerung Tanzt In Meinem Kopf
Da sind wir jetzt also. Album Nummer zwei nach der Reunion. Der Vorgänger Memento aus dem Jahr 2016 war ja schon eine Wiedergutmachung für die elf Jahre dauernde Durststrecke und das relativ schwache, vorläufige Abschiedsalbum Adios von 2004.
Mir persönlich ist Memento mit etwas Abstand stellenweise musikalisch zu verkopft und zu „groß“, was trotz aller Freude über die wundersame Heilung eines Kevin Russell dazu führt, dass das Album bei mir so gut wie keine Rotation mehr hat.
Viel ist seitdem passiert. Die Onkelz stampften ihr eigenes Open Air Festival Matapaloz aus dem Boden und ließen Granaten wie Megadeth, Slayer, Arch Enemy, Five Finger Death Punch, Anthrax, Suicidal Tendencies oder auch Hatebreed als Vorbands(!) auf die Bretter.
Ok, Metallica waren bisher noch nicht Hofkapelle, so wie im Song Könige Für Einen Tag von 1989 gewünscht, allerdings wird an der Ausrichtung schon sehr deutlich, wie man die Frankfurter mittlerweile einordnen kann.
Von einer wirklich grottenschlechten Punkband Anfang der Achtzigerjahre hin zum größten deutschsprachigen Rock ’n‘ Roll-Act, der ziemlich oldschool im harten Heavybereich unterwegs ist.
Das vorab veröffentlichte Cover des selbst betitelten, mittlerweile siebzehnten Studioalbums ließ Gutes erahnen: Endlich wieder ein Bandfoto auf der Vorderseite, etwas prollig und eben genau so, wie man es von einer Rockband erwartet. Tattoos, Pommesgabel, CBGB-Shirt und Zähne.
Diese Leichtigkeit spiegelt sich auch sofort im Opener Kuchen Und Bier wider. Rotzige Gitarren, angezerrter Bass und ein Kevin Russell in abermals erstaunlicher Bestform. Michael Mainx ist dieses Mal wieder mit an Bord und sorgt für das typische Onkelz-Flair, das man so eben schon lange nicht mehr gefühlt hat.
Des Bruders Hüter stampft nachfolgend mit einem absoluten Ohrwurmrefrain durchs Gebüsch und knüpft lyrisch mit Zeilen wie „Sei kein Matrose, du bist der Kapitän“ oder „Und kannst du auch den Sturm nicht brechen, so brich nur selbst nicht, und du siegst“ an alte Schulterklopfer an.
Der plötzliche Tod von Thomas Hess, langjähriger „Fünfter Onkel“ und Tourleiter der Böhsen Onkelz (und zudem noch Produktionsleiter des Wacken Open Airs) stand Pate für die ersten Zeilen von Ein Hoch Auf Die Toten. Ein schneller, treibender Rocker, der das Thema – bei aller Trauer – trotzig anpackt.
Über Prawda wurde im Netz schon so viel geschrieben, bzw. haben sich diverse YouTube-Vlogger mal mehr, mal weniger passend geäußert. Musikalisch etwas zurückhaltender, widmet sich Stephan Weidner wieder dem Thema „Wahrheit“. Jeder hat (s)eine und was letztendlich stimmt, weiß sowieso kaum jemand. In Bezug auf die Onkelz stehen Aussagen wie „Nur die halbe Wahrheit ist auch gelogen“ natürlich für sich.
Viel wichtiger ist es aber, zu offensichtlichen Lügen zu stehen und diese auch zugeben zu können. Die Aussagen zum damaligen Ende der Onkelz à la „Wir haben alles erreicht und möchten nicht als Rockopas enden“ waren natürlich gelogen und dienten dazu, den völlig abgewrackten und von Drogen zerfressenen Sänger der Band sowohl vor den Medien als auch vor den eigenen Fans zu schützen. Dies nach all den Jahren zugeben zu können, erfordert Rückgrat, ganz klar. Es zeigt aber auch die Ambivalenz dieses Songs.
Bleiben wir noch etwas bei dunklen Themen. Rennt! beschreibt sehr deutlich die schlechten und abgründigen Seiten des „Menschsein“ und steht damit in einer Reihe mit früheren Liedern wie Schöne Neue Welt, Entfache Dieses Feuer, Irgendwas Für Nichts, Gesichter Des Todes, der 1993er Anti-Nazi-Hymne Deutschland Im Herbst oder Wie Kann Das Sein.
„Wir sind das Wasser in dem das Schiff versinkt. Wir sind der Sturm, in dem die Kindheit dann ertrinkt. Wir sind das Feuer das die Heimat verbrennt. Erst die Propaganda, dann das Massaker.. Rennt!“
So einfach (und erschreckend) kann es sein, Themen wie das tausendfache Ertrinken von Flüchtlingen im Meer sowie Krieg und Elend in wenigen Worten auf den Punkt zu bringen.
„Schönes Leben, schönes Leben. Den Garten Eden abgeholzt mit Kettensägen“.
Apropos Kevin Russell.
Der Mann hat ja schon so ziemlich alles durch. Vom Asipunk zum Krawall-Skin in den frühen Achtzigern, vom langhaarigen Heroinjunkie zum Fratzen schneidenden Schatten seiner selbst vor Gericht. Drogen, Knast, Absturz.
Und dann steht dieser Hüne nach all dem Mist trotzdem wieder auf der Bühne. Nüchtern, clean, reflektiert.
Wie Aus Der Sage, zum größten Teil von Drummer Pe getextet, ist dann auch gleich einer der besten Songs auf der Platte. „Kämpfen macht dich stark, nicht das Gewinnen“ mit solch einer Inbrunst ins Mikro gerotzt, dass einem angst und bange wird – oder für eine meterdicke Gänsehaut auf dem Rücken sorgt.
Bock auf Reggae? Na, haben wir heute auch im Angebot. Der Hund Den Keiner Will versprüht musikalisch etwas Sommerfeeling und wartet mit einer echt tollen Gesangslinie und einem groovigen Bass auf. Der Titel lässt es jedoch erahnen.. mit Poolparty und Cocktail mit Schirmchen hat der Text natürlich nichts zu tun.
Wer Schön Sein Will Muss Lachen ist dann die obligatorische „Naja, hätte nicht sein müssen“-Nummer. Für mich der schwächste Track auf einem sonst unerwartet starken Album.
Überspringen wir ein paar Songs und kommen direkt zum magischen Moment des Albums. Und ja, jetzt sitzt die Fanbrille wirklich bombenfest auf der Nase…
Es gibt diese speziellen Onkelz-Songs, die sind anders. Da verbinden sich Text und Musik auf dämonisch-heilige Weise zu Liedern, die einen nie wieder – wahrscheinlich bis zum letzten Atemzug – loslassen. Die die Quintessenz dessen sind, was man selbst mit dieser Band verbindet. Dieses Gefühl, das man mit Worten nicht beschreiben kann. Jeder Versuch einer Erklärung sorgt für Kopfschütteln und Unverständnis bei Dritten. Auch nach vierzig Jahren.
Erinnerungen von 1987 ist so ein Ding. Nichts Ist Für Die Ewigkeit, Buch Der Erinnerung, Der Himmel Kann Warten, Die Stunde Des Siegers, Wieder Mal Nen Tag Verschenkt oder Nur Die Besten Sterben Jung. Und viele weitere.
Und Die Erinnerung Tanzt In Meinem Kopf.
Ich wurde vor dem Release schon vorgewarnt, dass mir der Song die Schuhe ausziehen wird.
Meine Fresse, das hat er dann auch gemacht. Es ist einer dieser Songs, die beim ersten Hören dazu geführt haben, dass der alte Andreas B. weinend wie ein Schlosshund vor der heimischen Stereoanlage liegt und sich fragt, was zum Teufel da gerade passiert ist.
Noch nie sang Kevin so gefühlvoll, noch nie wurde Melancholie von den vier Musikern so gnadenlos vertont.
Wenn es einen perfekten letzten Song der Band gibt, dann wäre es dieser. Er klingt wie ein „Farewell“.