Single Celled Organism – Percipio Ergo Sum

Musikalische Hingabe verschmilzt Artrock mit Dystopie

Artist: Single Celled Organism

Herkunft: Garlstorf, Deutschland

Album: Percipio Ergo Sum

Spiellänge: 61:56 Minuten

Genre: Progressive Rock, Artrock

Release: 07.05.2021

Label: Flat Earth Music

Link: https://singlecelledorganism.com/

Bandmitglieder:

Gesang, Schlagzeug, Keyboard, Gitarre und Bass – Jens Lueck

Gastmusiker:

Gesang – Isgaard
Gitarre – Ingo Salzmann
Gitarre – Johnny Beck
Akustikgitarre – Jürgen Osuchowski
Violine und Bratsche – Katja Flintsch
Cello – Olek Bakki
Flöte – Volker Kuinke

Tracklist:

  1. She’s Awake
  2. The Final Door
  3. I’d Like To See
  4. Ride On A Ray
  5. Doubts
  6. Save Me From Dreaming
  7. I’m Not Human
  8. Hey You
  9. Humble
  10. Entanglement Runs Off
  11. Inhale The Dark

Für einen kleinen Snack zwischendurch ist Multiinstrumentalist Jens Lueck wahrlich nicht zu haben. In einer Zeit, in der der gesamte Alltag in einer Millisekunde am inneren Auge vorbeirauscht, veröffentlichte er das entschleunigte Konzeptalbum Splinter In The Eye (2017). Eine gute Story schreibt man nicht in einem Kapitel und so findet das progressive Rockprojekt auf Percipio Ergo Sum (dt. Ich nehme wahr, also bin ich) seine Fortsetzung. Kurzer Teaser: Die beiden Protagonisten haben den Untergang der Zivilisation und den Wiederaufbau überlebt und leiden – jeder für sich, ohne einander persönlich zu begegnen – unter der Vergangenheit ebenso wie unter der Gegenwart. Für das umfassende Erlebnis von Musik und Story begibt man sich auf die oben genannte Bandwebsite. Da es sich hier um einen einzelligen Organismus handelt, sei noch erwähnt, dass Jens Lueck die Songs selbst produziert, aufgenommen, gemischt und gemastert hat – im hauseigenen Art Of Music Studio.

Dass Teenie-Töchter den Eltern nicht nur auf den Nerven und auf der Tasche liegen, hatte der Mastermind am eigenen Leib erfahren. Denn erst die SMS seiner 14-jährigen Tochter mit der Empfehlung des Porcupine Tree-Meisterwerks Fear Of A Blank Planet initiierte den Start von Single Celled Organism. Zusammen mit Lebensgefährtin Isgaard, die den Gesang der weiblichen Protagonistin übernimmt, und zahlreichen Gastmusikern geht es wieder auf die spannende Reise für Fans „floydscher“ Kunst. Man könnte sagen, für Fans von Pink Floyd Ende der 80er, Anfang der 90er und älteren Alben von Porcupine Tree ohne den Heavyfaktor. Hier und da werden noch ein paar Prisen alte Genesis, Yes und Rush eingestreut.

Da man dieses Konzept bestenfalls am Stück mit dem Vorgänger als „Vorspeise“ zelebriert, möchte ich entgegen meiner Natur nicht jeden Song in seine Einzelteile zerlegen. Lediglich einige in meinen Ohren herausragende Stücke sollen nicht unerwähnt bleiben. Jens Lueck beherrscht jedes der oben genannten Instrumente, so viel ist sicher. Was mir jedoch über die gesamte Spielzeit auffällt, ist, dass er sich am Schlagzeug besonders wohlfühlt. Diverse polyrhythmische Finessen lassen auch die Augen eines Fans von Größen wie Gavin Harrison (King Crimson, The Pineapple Thief) oder Craig Blundell (Steven Wilson) leuchten.

Da ich gerade das neue Frost*-Album (zum Review) auf den Ohren hatte, fällt mir am Ende des Openers das wundervoll singende Gitarrensolo auf. Es erinnert wahlweise an John Mitchell von Frost* oder natürlich an den allgegenwärtigen Floyd-Saitenzauberer David Gilmour. In jedem Fall lässt es die Nackenhärchen zu Berge stehen. Die instrumentale Schau wird stets songdienlich verwendet und nie zur bloßen Selbstdarstellung. Komponieren auf höchstem Niveau, statt ohne Sinn und Verstand am Computer „zusammengeschustert“.

Das zweite Stück The Final Door fördert leider mein größtes Problem mit Single Celled Organism ans Licht. Der Gesang ist bei Weiten nicht schlecht, weder von Herrn Lueck noch von seiner Partnerin Isgaard, aber bei mir dringt er nicht durch. Man könnte sagen, dass ich ihn nicht fühle. So bleibt mir nur die Flucht in die instrumentalen Passagen. Diese sind durch die Bank weg, gut bis großartig. Nachzuhören in den letzten zwei Minuten von The Final Door: Warme Gitarrensoli leiten ein, das Keyboard übernimmt. Dann bilden Klavier und Flöte eine harmonische Einheit, bevor das Schlagzeug dazwischenfunkt.

Wer nach den ersten Akkorden von I’d Like To See nicht laut Pink Floyd schreit, der hat noch nie einen Ton dieser Band gehört. Dieser Vergleich ist jedoch als Verneigung und nicht als Plagiat zu verstehen. Hörspielsequenzen unterstützen das Konzept an einigen Stellen, was beim genannten Vergleich natürlich an The Wall denken lässt.

Doubts (dt. Zweifel) gibt es wohl bei den Protagonisten dieser Geschichte. Nicht der geringste Zweifel besteht jedoch beim Gitarrensolo im gleichnamigen Song, das mich in äußerste Verzückung versetzt. Die Stücke auf Percipio Ergo Sum, die sich tiefschürfend bei mir festgesetzt haben, sind I’m Not Human und Entanglement Runs Off. Das Erstgenannte wabert mit Ambient-Klängen und der elfengleichen Stimme von Isgaard durch die Gehörgänge. Ab Minute drei fühlen sich auch Stachelschweine auf Bäumen heimisch.

Entanglement Runs Off ist mit knapp neun Minuten der längste Song und wartet wieder einmal mit einer einleitenden Hörspielsequenz und mit spektakulärem (!) Drumming auf. Aus Sicht eines Metalmagazins darf in diesem Song auch das erste Mal das Stichwort Metal fallen, wenn auch in verhaltener Ausprägung. Über die tollen Drumparts legen sich abwechslungsreiche Gitarrensoli allererster Güte. Spätestens ab Minute sieben geleitet mich Jens Lueck endgültig in den Prog-Himmel und das ruhige Inhale The Dark zeigt mir die Pforte.

Single Celled Organism – Percipio Ergo Sum
Fazit
Schön, dass sich jemand anno 2021 noch die Mühe macht, so ein Konzept zu erdenken. Die Arbeit mit der Story und den Kompositionen ist kostentechnisch vermutlich nicht aufzufangen. Percipio Ergo Sum ist eine Verneigung vor progressiver Musik der älteren und jüngeren Vergangenheit, ohne dabei Copy-and-paste zu verwenden. Die Kehrseite der Medaille ist für meinen persönlichen Geschmack der Gesang, der mich einfach nicht „abholt“. Freunde der musikalischen Vorbilder wie Pink Floyd, Porcupine Tree oder IQ sollten unvoreingenommen ein Ohr riskieren. Diese Art der kompositorischen Hingabe scheint vom Aussterben bedroht.

Anspieltipps: I’m Not Human und Entanglement Runs Off
Florian W.
7.8
Leser Bewertung14 Bewertungen
9.7
7.8
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