Rock In Rautheim 2023 am 05.05. und 06.05.2023 in Braunschweig

“Laut für Inklusion – Rautheim weiß, wie Heavy Metal geht!“

Festivalname: Rock In Rautheim 2023

Bands: Headshot, Enemy Inside, Iron Savior, Grave Digger, Cosmic Presents, WarWolf, Crystal Viper, Mystic Prophecy, Orden Ogan

Ort: Gelände der Lebenshilfe, Heinz-Scheer-Straße 2-3, 38126 Braunschweig

Datum: 05.05. bis 06.05.2023

Kosten: Wochenendticket 49 € VK/AK, Tagestickets: Freitag 17 € / Samstag 39,60 €, Ermäßigungen für Menschen mit Behinderung

Genre: Thrash Metal, Symphonic Metal, Alternative Metal, Power Metal, Heavy Metal, Psychedelic Rock, NWOBHM, Speed Metal

Besucher: ca. 1.400 Besucher pro Tag

Veranstalter: Lebenshilfe Braunschweig gemeinnützige GmbH (https://www.lebenshilfe-braunschweig.de/)

Link: https://www.rock-in-rautheim.de/

Setlisten: Einige Setlisten des Wochenendes findet ihr HIER

Das erste Open Air des Jahres ist immer etwas Besonderes: Endlich wieder frische Luft, Sonnenlicht für blasse Metalheads und Pyros, die den Nachthimmel erhellen. Das inklusive Festival Rock In Rautheim, organisiert von der Lebenshilfe Braunschweig und Initiator Marco Spiller, gefördert von der Aktion Mensch, unterstützt durch regionale Partner und gestemmt von vielen ehrenamtlichen Helfern, ist wahrlich etwas Außergewöhnliches. Mein lieber TFM-Kollege Lars T. war 2022 erstmals vor Ort und war so überzeugt, dass er seitdem voll des Lobes für das Festival im niedersächsischen Braunschweig ist und mir den Mund wässrig redet. Da muss erst jemand die weite Reise aus dem hohen Norden antreten, um mir zu sagen, dass in meiner näheren Umgebung ein tolles Festival auf die Beine gestellt wurde. In den letzten Tagen gehörte Lars zu den zahlreichen ehrenamtlichen Helfern vor Ort und untermalt meinen Bericht vom Wochenende zudem mit turbogeilen Fotos. Wer mehr zu den Hintergründen des inklusiven Festivals und der Lebenshilfe Braunschweig erfahren möchte, dem lege ich diese Kolumne ans Herz – ebenfalls verfasst vom lieben Kollegen Lars.

Beim 2023er Line-Up von Rock In Rautheim musste ich nicht lange überlegen. Legenden des Power Metal treffen auf Psychedelic Rock und Modern Metal – ich bin dabei!

Freitag – 05.05.2023

Passenderweise ist am heutigen Freitag der „Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung“. Also, laute Musik im Namen der Inklusion genießen.

Die kurze Anreisezeit von ca. 40 Minuten ist ein positiver Faktor, der in Zeiten von Energiekrisen am laufenden Band nicht genug betont werden kann. Auf dem gut ausgeschilderten Gelände angekommen, beeindruckt mich die klar strukturierte Organisation von der ersten Minute an. Die Dame am Parkplatz hat alles im Griff. Dank der gütigen Mithilfe meines Kollegen (erneut Bussis an Lars 😘) darf ich meinen Hobel auf dem V.I.P.-Parkplatz abstellen. Auf dem Weg zur Akkreditierung läuft mir Peavy über den Weg, der mit seinen Mannen von Rage bereits im letzten Jahr den Samstag headlinen durfte. Er ist als Fan und Unterstützer des Festivals vor Ort.

Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Nach der zügigen Akkreditierung auf dem Festival-Gelände angekommen, kann ich mich von der reichhaltigen Auswahl der Stände überzeugen. Kulinarisches von Gyros-Baguettes, die es auch in einer Veggie-Variante gibt, über Klassiker wie Bratwurst und Pommes bis zu süßen Leckereien wie Popcorn, Eis und „Bunten Tüten“ – das sollte gut über den Tag bringen. Die Preise, auch für die Getränke, sind mehr als fair. Unser TFM-Banner mit dem Spruch „It‘s just Metal, mom“ prangt direkt neben dem Bierstand – so muss das! Neben Bandmerch und hauseigenem Merch mit Rock In Rautheim-Logos befinden sich im hinteren Bereich auch zahlreiche Sitzmöglichkeiten. Die Tribüne für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, wurde in diesem Jahr noch einmal vergrößert. Apropos groß: Die beiden riesigen Leinwände rechts und links neben der Bühne beeindrucken mich schon. So ist für alle eine gute Sicht gewährleistet. Alles wirkt durchdacht. Allgemein fällt mir auf, dass ausschließlich entspannte Leute unterwegs sind. Der Wohlfühlfaktor ist jetzt bereits enorm hoch.

Headshot, Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Jetzt kann es losgehen. Pünktlich um 16:30 Uhr legen die Braunschweiger Thrasher von Headshot mit ihrem Heimspiel los. Zunächst ist die Stimme von Frontfrau Daniela nicht zu hören, was sich aber schnell ändert. Dann kann jeder im noch verhalten agierenden Publikum die „liebliche“ Stimme der Sängerin genießen. Dieses Goldkehlchen lehrt so manchem männlichen Kollegen am Mikro das Fürchten. Die Band, die 2022 ihren letzten Hassbatzen namens Eyes Of The Guardians herausbrachte, hat sich ganz dem Old School Thrash verschrieben, reichert diesen aber mit filigranen Soli an. Auf die zweite Klampfe muss die Band heute verzichten, weil Gitarrist Max im Krankenhaus weilt – er wird Papa. Herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle. Die fehlende Axt tut den geilen Frickelorgien allerdings keinen Abbruch. Die erste Reihe, in der sich scheinbar treue Anhänger der Lokalmatadoren befinden, geht schon gut ab. Der Sound ist druckvoll, aber nicht zu laut. Sängerin Daniela betont, dass sie heute nicht nur einmal zu hören bekommen haben, sie wären „die krasseste Band im Line-Up“. Angesicht der sonst eher massentauglichen Bands, kann man die Aussage so stehen lassen. Jeder, der über das Festivalgelände flaniert, nimmt die große Anzahl an Kindern wahr. So auch die Sängerin der Thrasher, die sich über die nächste Generation im Publikum freut. Gleichzeitig lobt sie auch Veranstalter Marco Spiller und sein Team. Worte, die heute nicht das letzte Mal fallen. Die Zeit drängt, das im November anstehende 30-jährige Jubiläum der Braunschweiger standesgemäß über alle Dekaden in der Setlist unterzubringen. Oder wie es Daniela ausdrückt: „Ein ganz eng gestricktes Höschen heute.“ Der Rausschmeißer Denial Of Life vom 20 Jahre alten Werk Diseased ballert dem Publikum noch einmal derbes Geschredder und Gefrickel in Reinkultur um die Ohren – so ist’s recht. Nach 45 Minuten ist Schicht im Schacht und Zeit für die erste Verschnaufpause.

Enemy Inside, Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Durch das entspannte Miteinander auf dem Gelände vergeht die Zeit bis zur nächsten Band wie im Flug. Yeah, Modern Metal sprengt den Altherrenklub, der an diesem Wochenende vorherrscht. Wie sehr wir Metalfans auf Schwarz in Schwarz getrimmt sind, beweist das Auftreten von Enemy Inside aus Aschaffenburg. Die Band um die deutsch-italienische Sängerin Nastassja Giulia bietet mit weißen Outfits und Instrumenten was fürs Auge. Die dicken Nu-Metal-Riffs gepaart mit Gänsehaut verursachendem Gesang erinnern mich nicht selten an die Amerikaner von Evanescence. Hinzu gesellen sich klassische Gitarrensoli von Mitbegründer Evan K. Enemy Inside spielen das erste Mal in Braunschweig, doch noch kommt der Mix aus Dark Rock und Modern Metal nicht in Rautheim an. Dabei geht es auf der Bühne ordentlich zur Sache und Nastassja versucht alles, um etwas Feedback aus dem Publikum zu bekommen. Mit dem Cover des Texas-Charthits Summer Son gelingt dies auch zum Teil. Der Sound ist nach wie vor glasklar und Nastassjas auf den Punkt getroffene Noten berühren mich sehr. Mit dem abschließenden Titeltrack des Debütalbums Phoenix hinterlassen sich mich mit einem Lächeln und einem dicken Ausrufezeichen im Notizbuch. Schade, dass der Auftritt an diesem Tag nicht alle so berührt.

Iron Savior, Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

In Zeiten der Übersättigung und ständiger Reizüberflutung tut es gut, sich mal wieder so richtig auf eine Band zu freuen. Das ist der Fall bei den Hamburger Urgesteinen von Iron Savior, die ich das letzte Mal vor geschlagenen 20 Jahren auf dem legendären Blind Guardian Open Air erleben durfte. Wie einen alten Bekannten verlor ich die Band über die Jahre aus den Augen und freue mich auf das Wiedersehen. Das überragende Album Skycrest (2020) war der Auslöser, dass die Mannen um Piet Sielck wieder auf meinem Radar landeten. Mit den Jungs zieht es direkt mehr Festival-Volk in Kutten vor die Bühne, leider werden einige dieser Prachtexemplare sogleich von bunten Regenmänteln umhüllt, denn inzwischen hat es sich nach einem verheißungsvollen Tagesstart eingeregnet. Iron Savior starten überpünktlich und rauschen mit Way Of The Blade los, wie ’n Bürstenschleifer auf ’nem Kiefernbrett. Da ist Spaß in den Backen. Der düstere Vorhang am Himmel wird von den ersten Flammen und Pyros durchbrochen. Nach weiteren Brettern à la Kill Or Get Killed oder dem famosen Souleater, das zunächst falsch angespielt wird, wischt sich Piet den Schweiß (oder Regen) mit „echter Elefantenunterhose“ von der Stirn. Darauf ein dreifaches „Ohhhh“ für Schwitzen und Durst. Alte Männer haben es nicht leicht. Der trockene, norddeutsche Humor sorgt zwischen den Songs für Unterhaltung. Das Publikum quittiert die Tatsache mit Sprechchören, trotzt dabei dem Regen und schüttelt die Köpfe zu den dicken Riffs. Fäuste werden synchron zu den Feuerbällen in den Abendhimmel gereckt. Ein neues Studioalbum steht für Oktober in den Startlöchern und Piet verlangt von den Fans „doch bitte aufgeregt zu sein“. Geschonter Rücken vor Coolness: Basser Jan tauscht seinen „tonnenschweren“ Flying-V-Bass kurzerhand gegen eine „normale“ Variante. Auf den etatmäßigen Gitarristen Joachim “Piesel” Küstner muss die Band heute verzichten. Er ist als Soundmann mit den alten Weggefährten von Helloween unterwegs. Sein Ersatzmann Jan und Mastermind Piet schütteln sich aber auch so ultrafette Soli aus dem Ärmel. Zur Hymne Heavy Metal Never Dies „erfindet“ Piet kurzerhand das „Heavy Metal Sing Battle“ und lenkt die Zuschauer mit dem kleinen Spielchen vom stärker werdenden Regen ab. Die vorletzte Nummer ist so alt, „die riecht schon komisch“. Die Zeile „Fires in the sky“ aus dem Debütsong Atlantis Falling sitzt trotzdem und als Sahnehäubchen darf die tropfnasse Metallerschar noch das Priest-Cover Breaking The Law mitschmettern. Was für ein genialer Abriss – danke Jungs!

Grave Digger, Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Ob die alten Totengräber da noch einen obendrauf setzen können? Das stimmungsvolle Licht nebst Pyro, Nebel und Feuer sorgt jedenfalls für die richtige Atmosphäre und voll wird es auch vor der Bühne. Gerade frisch von der Tour aus Südamerika zurück, haben Grave Digger einige Krankheitsfälle zu beklagen. Das hält aber niemanden davon ab, hier zu rocken. Das beweist der angeschlagene Saitenhexer Axel Ritt, der wie eh und je seine gestählte Brust aus der offenen Weste herausblitzen lässt, während einige vor der Bühne anfangen zu frieren. Zieh dir doch mal was an, Junge! Los geht es mit Biker-Romantik und Mitgrölgarantie in Lawbreaker und Tattooed Rider. Legende Chris Boltendahl hat Bock und stachelt die Menge an. Sollte es so etwas wie eine Sehnsucht nach langer Abstinenz bei Iron Savior gegeben haben, so bin ich von den zahlreichen Auftritten Grave Diggers eher übersättigt. Umso schöner, dass eher selten gehörte Nummern wie The House oder Wedding Day den Weg in die Setlist finden. Die ersten Singspiele gibt es zu Ballad Of A Hangman, die „Ohohos“ sitzen, die Fans haben Spaß. Soundtechnisch gibt es noch mal eine Schippe obendrauf. Vor allem der Bass von Jens Becker dengelt gut. Der Regen legt sich und Rautheims Umgebung hört laute Chöre zu Dark Of The Sun. Die ersten Grave Digger-Sprechchöre machen sich breit. Nach dem obligatorischen Rebellion „gibt es ein bisschen Punkrock“ mit dem fast 40 Jahre alten Gassenhauer Witch Hunter und der Moshpit ist in Bewegung. Nach diversen Durchläufen „Heavy Metal Breakdoooooown“ hat Chris ebenfalls warme Worte für die Veranstalter parat und liefert zum Abschluss den wichtigsten Satz des Tages: „Laut für Inklusion!“

Samstag – 06.05.2023
Cosmic Presents, Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Nach dem mehr als gelungenen Auftakt in meine persönliche Open-Air-Saison am Freitag, kann es am Samstag munter weitergehen. Der Wettergott ist an diesem Tag den Metalheads wohlgesonnener und wartet mit nahezu perfektem, teils sonnigem, teils bewölktem Festivalwetter auf. Erst kurz bevor die erste Band des Tages pünktlich um 16 Uhr loslegt, treffe ich ein. Sorry, die gemütliche Terrasse der örtlichen Pizzeria bei feinstem Frühlingswetter war einfach zu gemütlich. Im Infield sieht es um diese Zeit auch noch sehr überschaubar aus. Was wäre ein inklusives Festival ohne die entsprechenden Musiker dazu? So spielt Cosmic Presents-Sänger/Gitarrist Frank nur mit einem (!) Arm und zwar dem linken das Griffbrett rauf und runter – beeindruckend. Zugegeben, die Band aus Emmendingen in Baden-Württemberg spielt schon eine etwas spezielle Mischung aus Blues, Indie und Psychedelic Rock in den ich nur schwer reinfinde. Mal werden lässige Blueslicks als Hommage an Chuck Berry und Bon Scott Richtung Himmel gesendet und dann werden fast schon poppige Nummern auf Deutsch präsentiert, bei denen sich Frank und Mel am Gesang abwechseln. Auch Cosmic Presents entsenden nichts als lobende Worte in Richtung der Veranstalter und vertonen ihr persönliches Motto „Weniger von allem, für alle“. Nach 30 Minuten ist der Zauber schon wieder vorbei.

Warwolf, Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Die nächste Band des Tages war zwischen 1994 und 2021 unter dem Namen Wolfen bereits in thrashiger Mission unterwegs und frönt dem NWOBHM seitdem unter dem Banner WarWolf. Von der ersten Sekunde an wird klar, dass die Kölner Maiden bereits mit der Muttermilch aufgesogen haben. Die Leads machen direkt Bock, obwohl die Jungs auf ihren zweiten Gitarristen Peter verzichten müssen. Wie ich später am Merchstand erfahre, erlitt er einen Herzinfarkt. An dieser Stelle wünsche ich alles Gute für die Genesung. Nach kurzer Zeit wird Bassist Flo „kaputtgespielt“. Ein Fehler, der sich schnell am nicht eingestöpselten Kabel ausmachen lässt. Frontmann Andreas von Lipinski entpuppt sich als echte Rampensau, klingt exakt wie die Schnittstelle zwischen Di’Anno und Dickinson und lässt während seiner Ansagen hart den „kölsche Akzent“ raushängen. Dieser Spaß überträgt sich sogleich aufs Publikum, denn es wird voller vor der Bühne und nach kurzer Zeit fressen alle dem sympathischen Sänger aus der Hand. Hymnen wie Daywalker oder Nosferatu vom Debütalbum Necropolis (2022) zünden live und man habe der Band zugetragen, dass sie „etwas nach Iron Maiden klingen“. Das entlockt Fronter Andreas nur ein verschmitztes Lächeln und während er sich über sein Senjutsu-Shirt streift entgegnet er: „Isch kenne die Band garnet und unser Gitarrist (ebenfalls mit Maiden-Shirt) auch net.“ Die in Köln verortete Band wird mit Bandmitgliedern aus Leverkusen, Dortmund und Hamburg vorgestellt, was zu weiteren Witzeleien über Städte und Fußball führt. Den Zuschauern und mir gefällt der Mix aus geilem Old School Metal und Klamauk. Beim Titelsong Necropolis wird der Refrain lautstark mitgesungen und ein kleiner Steppke landet während der Performance auf dem Arm des Sängers. Die lauten „Zugabe“ Rufe lassen nicht lange auf sich warten. Wie die lange Schlange am Merchstand untermauert, haben WarWolf heute den einen oder anderen Fan hinzugewonnen – mich eingeschlossen.

Crystal Viper, Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Crystal Viper sind die einzige Band im Line-Up, die nicht aus Deutschland stammt. Die Polen feiern in diesem Jahr ihr 20-jähriges Jubiläum und haben einen Mix aus Heavy, Power und Speed Metal im Gepäck. Und sie haben es eilig, denn während ich noch etwas aus dem Auto holen möchte, legt die Truppe um Frontfrau Marta Gabriel 15 Minuten zu früh los. Also im Vollsprint vor die Bühne. Auf den Brettern ist bereits die Hölle los. Schnell wird klar, dass die Polen Energie für drei haben. Die spitzen Schreie von Marta sitzen und die doppelte Gitarrenpower schüttelt Leads am laufenden Band aus dem Ärmel. Es wird gepost, was das Zeug hält und die Bandmitglieder scheinen nach Kilometern bezahlt zu werden. Stillstand nicht erwünscht. Auch im Publikum wird das Tanzbein geschwungen. Martas Ansagen wirken im Vergleich zu ihrer energiegeladenen Performance regelrecht niedlich. Der teils dem Thrash entliehene Gitarrensound ballert schön dreckig aus den Boxen, die hohen Scream sitzen und die Fans lassen sich zu lautstarken „Ohohos“ hinreißen. Auch hier wird nach Zugabe verlangt, die prompt mit dem getragenen When The Sun Goes Down folgt. Crystal Viper lassen nichts als verbrannte Erde zurück.

Mystic Prophecy, Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Den Frühstart der polnischen Kollegen nutzen Mystic Prophecy für einen intensiven Soundcheck. Das hat sich gelohnt, wie der mit Abstand beste Sound des ohnehin toll abgemischten Festivals beweist. Wie bei Iron Savior habe ich die Band um den charismatischen Frontmann Lia seit Ewigkeiten nicht mehr live gesehen. Damals standen sie noch am Anfang ihrer Karriere. Gitarrist Evan K schiebt an diesem Wochenende Doppelschichten und tauscht die weiße Kluft von Enemy Inside gegen die schwarzen Klamotten bei Mystic Prophecy. Die Metal Division präsentiert sich als eingeschworenes Team und spätestens ab dem dritten Song Killhammer ist das Publikum voll da. We Kill You Die übernimmt danach die Funktion einer Abrissbirne. So muss Power Metal live klingen, ohne Schnörkel, ohne Kitsch. Lia reiht sich in die Lobeshymnen in Richtung der Veranstalter und hat noch Liebe für jemand anderen übrig: „Der Koch hier ist der absolute Hammer, Freunde.“ Ebenfalls der absolute Hammer ist der Frontmann, der sich in den letzten 20 Jahren zu einer echten Größe entwickelt hat. Kill The Beast reiht ein weiteres „Kill“ in den Songtextgenerator, was meinem Kumpel ein „Die töten alles“ entlockt. Laute Chöre ziehen zu War Pancer durch die Reihen, ehe das dritte Cover des Festivals mit Mike Oldfields Klassiker Shadow On The Wall nahtlos anschließt. Die Jungs feiern am 19. Mai 12 Alben in 24 Jahren und präsentieren daraus den Titeltrack Hellriot, „weil Marco Spiller uns deswegen so auf den Sack gegangen ist“. Die ersten „Ravenlooooord“ Rufe aus der ersten Reihe werden laut, woraufhin Evan nur ein saloppes „warte doch ab“ entgegnet. Zunächst hält aber Bassistin Joey nichts mehr auf der Bühne und so rennt sie kurzerhand durch den Graben, um „Fistbumps“ zu verteilen. Der Abschluss mit Metal Brigade und dem geforderten Ravenlord bringt die Stimmung fast zum Überkochen. So geht eine amtliche Metalparty!

Orden Ogan mit Peavy, Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Es wird frisch im nächtlichen Braunschweig. Wie gut, dass sich zum Headliner nahezu alle 1.400 Festivalgäste vor der Bühne versammeln. Ich oute mich mal und sage, dass mich Orden Ogan live bisher nicht überzeugen konnten. Mal schauen, ob sich das heute ändert. Vom Band dröhnt Sauerland von Zoff aus den Boxen, die Heimat der Band wird gewürdigt. Nach dem mystischen Intro vom Ravenhead-Album geht’s mit Dawn Of The AI direkt in die Vollen. Das Publikum ist sofort da, um mich herum wird laut mitgesungen. Das Stageacting, einer meiner früheren Kritikpunkte, hat sich stark verbessert. Bis auf Mastermind Seeb Levermann, den vermutlich auch sein monströser Mantel an mehr Bewegungsradius hindert, werden die Plätze der Instrumentalfraktion rasch gewechselt. Bei einem von nur drei Konzerten im Jahr 2023 für Orden Ogan erspähe ich sogar die ersten Crowdsurfer des Festivals. Seeb, der seine Band und die Fans regelmäßig mit dem Handy filmt, verkündet auch ein neues Album für 2023. Sogleich krönt er auch die Woge der Zuneigung für das Rock In Rautheim und die tolle Behandlung mit den Worten: „Es gehört zu den Top Ten Festivals für uns.“ „Rautheim weiß, wie Heavy Metal geht“, freut sich der Frontmann sichtlich über das starke Feedback der Fans. Zu Inferno bescheinigt er seinem Bassisten Steven „die schlechteste Ansage des Metal“. Die „Burn it down“ Schlachtrufe sitzen dennoch. Nun muss Peavy Wagner doch noch „arbeiten“ und lässt sich zu einem kleinen Gastspiel in Heart Of The Android auf der Bühne blicken. Eine schöne Geste, die mit „Peavy, Peavy“ Rufen belohnt wird. Musikalisch ist hier alles top, die Leads sitzen und die Fans übertreffen ihre eigene Höchstleistung bei den Chören zu Let The Fire Rain. Im nächsten Augenblick habe ich einen Gänsehautmoment, als ich in der ersten Reihe ein kleines Kind Seite an Seite headbangend mit einem älteren Herren im Rollstuhl entdecke – für mich DAS Bild des inklusiven Festivals. Da das kommende Album auf den Namen The Order Of Fear hören soll, hat sich Seeb ein kleines Spiel ausgedacht, was zur Belustigung aller etwas aus dem Ruder läuft. Seine geforderten Vier/Fear-Sprechchöre funktionieren etwas zu gut, sodass von da an nur noch „Vier, vier, vier“ durch die Menge hallt. Selbst die Zeile „… cold, dead and gone“ im abschließenden The Things We Believe In wird kurzerhand zu „Vier, vier and vier“. „Ihr seid doch alle verrückt“. Stimmt genau: verrückt und glücklich.

Im Anschluss wird die Band noch in Funktion einer Losfee eingesetzt. Der Teufelzeuch-Stand des Rockharz Festival verlost Tageskarten an ein paar glückliche Gewinner.

Rock In Rautheim, 2023, Foto: Lars Thoke

Das hochkarätige Line-Up für das kommende Rock In Rautheim vom 10. bis 11. Mai 2024 steht ebenfalls schon fest: Es wird ein Wiedersehen mit einigen Bands aus 2022 geben: Rage feiern „Four Decades Of Metal“, die Schweden von Brothers Of Metal ziehen wieder in die Schlacht und die Punks von Metzer 58 sind ebenfalls erneut am Start. Hinzu gesellen sich die Durchstarter von April Art, Symphonic Metal von Ad Infinitum mit Wunderstimme Melissa Bonny, die Berliner Old School Metaller von Quasimodo und ein Stilmix mit Fheels. Weitere Leckerbissen präsentieren die Veranstalter in Form von Udo Dirkschneider himself, der alte Accept-Klassiker performen wird und eine Doppelfunktion von Sascha Paeth (u. a. Avantasia), der mit seinen Masters Of Ceremony eigene Songs und die der Wolfsburger Legenden von Heavens Gate aufführt.

Abschließend bleibt mir nur zu sagen, dass alle großartigen Festivals mit dem Wort „Rock“ anfangen: Rockharz, Rock Hard und ab sofort auch Rock In Rautheim. See you again next year!