Deftones: 20 Jahre White Pony – „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past

Wie aus Hass Liebe wurde – ein sehr persönlicher Rückblick

Wir befinden uns seit 20 Jahren in einem neuen Jahrtausend. Das legendäre Jahr hat nicht nur kalendarisch eine große Einwirkung auf uns gehabt, sondern ist das Geburtsjahr so manches Metalklassikers. In den 12 Monaten dieses Jahres wollen wir euch daher jeden Monat Alben in einer kleinen Kolumne zurück in eure Ohren bringen. Dabei wurde das Augenmerk nicht nur auf die Großen des Genres geworfen. Ein Kriterium unserer „On Tour“ Today With Music From The Past Reihe ist, dass die Formation in diesem Jahr auch live unterwegs ist. Nun gibt es aber leider Corona. Von den ganzen geplanten Festivals und Touren ist nichts mehr von da. Aber: Die Band bzw. die Musiker, welche für die damaligen Bands aktiv waren, könnten ja bald wieder auf Tour gehen. So gibt es eine kleine Änderung in unserer Kolumne. Statt „On Tour“ heißt es nun eben „Could Be On Tour“.

Die Neuauflage inkl. Remix-Album

Im folgenden Teil geht es um fünf Dudes aus Sacramento, die in ihren Anfangstagen dem Nu Metal zugerechnet wurden, eine Schublade, in die die Band nie passte. Passend zum 20-jährigen Jubiläum wird White Pony von den Deftones zusammen mit dem Remix-Album Black Stallion veröffentlicht, an dem so illustre Gäste wie Mike Shinoda (Linkin Park) oder Robert Smith (The Cure) beteiligt sind. Der wahnsinnige Stilmix aus Alternative Metal, Art Rock, Experimental Rock und Trip Hop beeinflusste unzählige Bands. White Pony erschien im Juni 2000.

Bevor ich der Buchstabensuppe in meinem Gehirn freien Lauf lasse, gibt es zunächst ein paar Fakten: Die gemeinsame Leidenschaft Skateboarden brachte Sänger Chino Moreno, Gitarrist Stephen Carpenter und Drummer Abe Cunningham zusammen. Als klassische Garagenband gründeten die drei 1988 zusammen mit dem Bassisten Dominic Garcia die Band Deftones. Chi Cheng übernahm 1990 für Garcia die tiefen Töne. Cunningham wurde wenige Zeit später durch Schlagzeuger John Taylor ersetzt, kehrte aber 1993 als festes Mitglied zur Band zurück. Nach einigen Auftritten u. a. mit Korn und diversen Demotapes, schlug die Band erste Vertragsangebote von kleineren Labels aus. 1995 wurde das von Popqueen Madonna gegründete Label Maverick Records auf die Band aufmerksam und stattete die Deftones mit ihrem ersten Plattenvertrag aus. Die ersten beiden Alben Adrenaline und Around The Fur gelten als wegweisende Werke des Genres Nu Metal.

White Pony Tracklist:

  1. Feiticeira
  2. Digital Bath
  3. Elite
  4. Rx Queen
  5. Street Carp
  6. Teenager
  7. Knife Prty
  8. Korea
  9. Passenger
  10. Change (In The House Of Flies)
  11. Pink Maggit

Back To School (Mini Maggit) ist der erste Song in der Neuauflage, die kurze Zeit später als Marketingstrategie der Plattenfirma erschien. Maverick Records wollte unbedingt eine Hitsingle, woraufhin Chino Moreno dem Label etwas beweisen wollte und der Song innerhalb einer halben Stunde entstand. Es ist eine alternative, gekürzte Version von Pink Maggit mit zusätzlichem Rap-Part. Der Sänger bezeichnete den Song zunächst als Fehler, gab aber später zu, dass er den Song nicht bereut.

Meine Reise mit dem weißen Pony

Meine Reise ins Innere der Deftones war langwierig und bestand eine sehr lange Zeit aus einer Art Hassliebe. Ende 2000/Anfang 2001: Trotz meiner Vorliebe für melodischen Power Metal konnte ich mittlerweile etwas mit Nu Metal anfangen. MTV beeinflusste meine Hörgewohnheiten stark. In dieser Zeit flimmerten erstmals die Videoclips zu Back To School und Change über die Mattscheibe. Ich fand Gefallen an dieser Musik, was aber hauptsächlich an den genialen Videos lag. Während die Band in Back To School eine Schule in Aufruhr versetzte, spielten sie in Change live auf einer Absturzparty – wie gemacht für einen 16-Jährigen, der gegen alles rebellierte! Die Songs waren hingegen nicht so eingängig wie z. B. Last Resort von Papa Roach oder One Step Closer von Linkin Park, die zur gleichen Zeit die Charts eroberten.

Ende des Jahres 2001 veröffentlichte das Rock Hard Magazin sein Special zu den 300 besten Hard ’n‘ Heavy Scheiben aller Zeiten. Ich setzte mir in den Kopf, alle Scheiben zu besitzen oder wenigstens mal gehört zu haben. Bands aus meinem Lieblingsgenre Power Metal kannte ich mittlerweile zur Genüge, ein anderer Sound musste her. White Pony landete gerade mal ein Jahr nach Veröffentlichung in den Top 300. Wow! Das musste doch was heißen. Also ab in den Bus und zum CD-Laden des Vertrauens gefahren. Leider war dort nur der Vorgänger Around The Fur zu haben, also Kopfhörer auf und reingehört. Ganz cool, aber ich wollte doch unbedingt das Top 300 Album. Da das hart ersparte Geld nicht so locker saß, ließ ich Around The Fur im Regal und bestellte mir White Pony. Nach einiger Zeit des Wartens durfte ich endlich in den Genuss des Albums kommen. Zunächst die Ernüchterung, ich erwischte die erste Auflage mit dem grauen Cover ohne das mir vertraute Back To School. Na ja, die anderen Songs werden mich schon überzeugen. So oft ich dieses Album auch hörte, bis auf Change konnte ich keinen Zugang dazu finden. So etwas nahm ich sehr persönlich. „Mein“ Magazin hatte doch geschrieben, dass es eins der besten Alben aller Zeiten sei.

Zeitsprung: 2008 stand ein Umzug an und ich widmete mich meiner inzwischen amtlichen CD-Sammlung. Die neue Wohnung bot nicht viel Platz, einige CDs mussten gehen. Frei nach dem Motto: Was du jahrelang nicht gehört hast, kann weg. So fiel mir das graue Cover mit dem weißen Pferd und einer dicken Staubschicht in die Hände und ab in die Auktionsplattform damit. Ein Fehler, der mir erst Jahre später bewusst wurde.

„The music we all listen to, whenever life gets to be too much to handle.“

Acht Jahre später versank mein Leben für einige Zeit im Chaos. Musik war mein Rettungsanker. Düster und schwermütig wie meine Gedanken musste sie sein. Auch die Deftones hatten inzwischen mit Gore ein neues Album auf dem Markt. Mittlerweile wurden CDs hauptsächlich durch Smartphones inklusive Streamingdienst ersetzt. Meine persönliche Playlist beinhaltete noch immer Back To School und Change. Jeder hat eine zweite Chance im Leben verdient und so kam es zur erneuten Begegnung mit White Pony. Da ich über Jahre hinweg immer mehr Zugang zu progressiven Songstrukturen fand, erhielt ich auch endlich Zugang zum komplexen Material des Albums.

DJ und Keyboarder Frank Delgado arbeitete schon auf den ersten beiden Alben im Hintergrund mit und wurde auf White Pony zum festen Mitglied, was dem Gesamtsound mehr Variationen verpasste. Insgesamt vier Monate, so lange wie nie zuvor arbeiteten die Amerikaner im Studio an ihrem Sound und verabschiedeten sich endgültig von ihren Nu Metal Wurzeln. Der Song Elite erhielt einen Grammy für die beste Metal-Performance, welches für mich das einzig austauschbare Lied auf der Platte ist. Der auf dieser Aufnahme zu hörende langjährige Bassist Chi Cheng verstarb 2013 an Herzversagen, zuvor lag er in Folge eines Autounfalls vier Jahre im Koma. Sergio Vega füllt die Lücke bis heute. Was macht den Sound des Albums so besonders? Die Wut und die gleichzeitige Zerbrechlichkeit. White Pony ist zum einen ein Slangbegriff für Kokain und steht in der Traumdeutung auch für sexualisierte Träume. Es nimmt dir die Luft zum Atmen und liefert gleichzeitig Sauerstoff. Ein vereinzelter Sonnenstrahl an einem finsteren Herbsttag. Ein Blick aus dem Fenster sagt mir, dass es genau der richtige Tag ist, um diese Zeilen zu schreiben. White Pony ist genau das, was meine zerstörte Psyche zu dem Zeitpunkt brauchte. Chino Moreno sagte zu den Lyrics: „Im Grunde habe ich auf dieser Platte nicht über mich selbst gesungen. Ich habe viele Handlungsstränge und sogar einige Dialoge erfunden. Ich habe mich selbst völlig herausgenommen und über andere Dinge geschrieben.“

Auf einige Songs und Texte möchte ich näher eingehen: Feiticeira ist aus der Sicht einer entführten Person geschrieben und beschreibt einige Stunden in Gefangenschaft. Dazu die zerbrechliche und verzweifelte Stimme von Moreno, der mit vielen Effekten auf der Stimme experimentierte. Das eröffnende Riff und die einsetzenden Drums haben etwas Magisches. Der Drumstil von Abe Cunningham hat einige erfolgreiche Drummer wie Daniel Tracy (Deafheaven) oder Ben Johnston (Biffy Clyro) beeinflusst. Noch genialer steigen die Drums in Digital Bath ein. Der melancholische und verträumte Song hat eine gewisse Schönheit, handelt allerdings davon, ein Mädchen per Stromschlag in einer Badewanne hinzurichten. Die elektronischen Beats und die bedrohliche Melodie dominieren Rx Queen. „Rx“ steht für „Prescription“ (dt. Rezept). Der Protagonist verliebt sich in die „Rezeptkönigin“, wie sie wegen all der Medikamente gegen ihre Krankheit genannt wird. Egal wie schlecht sie ihn behandelt, seine Liebe ist stärker als der Schmerz. Den Text zum ruhigen und fragilen Teenager schrieb Moreno bereits im Alter von 15 Jahren. Der Song war eigentlich für seine Band Team Sleep gedacht und enthält Elemente der Musikrichtungen Trip-Hop und Glitch. Er beschreibt, wie ihm das erste Mal das Herz gebrochen wurde und bringt somit doch noch persönliche Erfahrungen ein. Knife Prty gibt einem die helfende Hand und die Klinge zugleich. Die verstörenden Schreie einer Frau stammen von Rodleen Getsic, die zur Zeit der Aufnahmen im Nachbarstudio arbeitete und durch den Extremfilm The Bunny Game bekannt wurde. Moreno dachte sich ein imaginäres Szenario einer geheimen „Messergesellschaft“ aus, nachdem zuvor eine Party stattfand, bei der jeder mit einem Messer aus Abe Cunninghams Sammlung um den Tourbus tanzte (sic!).

Während der Arbeiten an den Songs tauchte im Proberaum in LA auch Tool/A Perfect Circle Frontweirdo Maynard James Keenan auf. Er versuchte mit Champagner und Klangschalen etwaigen Schreibblockaden entgegenzuwirken. Er veranlasste die Jungs, die Instrumente zu tauschen und abwechselnd auf den Klangschalen zu spielen. So ganz ohne fremde Substanzen ist es wohl nicht vonstattengegangen. Kurze Zeit später im Studio resultierte daraus die Zusammenarbeit im Song Passenger, der durch die Stimme von MJK an Genialität kaum zu überbieten ist. Um den Kreis zu schließen, begebe ich mich nun zu meinem ersten Bandkontakt Change (In The House Of Flies) zurück. Zum Inhalt des Songs äußerte sich Moreno damals wie folgt: „Es ist ein metaphorisches Lied. Man könnte es so wörtlich nehmen, dass ich jemanden beobachte, der sich in eine Fliege verwandelt und ihn mit nach Hause nehme, ihm die Flügel ausreiße und lache. Es entspringt daraus, dass ich ein totales Arschloch bin und die volle Tragweite dafür bekomme, indem mir mein Leben genommen wird.“ „Niemand weiß, worum es geht, außer Chino, sagte Bassist Chi Cheng damals. Mit dem Song gelingt der Einstieg in das Deftones Universum am besten. Fragilität, Härte, Emotionalität und über allem schwebt der magische Gesang von Chino Moreno – alles, was Deftones repräsentieren, steckt in diesem Song. Wer die Band noch nicht kennt, sollte mit diesem Lied anfangen, auch wenn der Übergang von Hass zur Liebe 15 Jahre dauern kann.

Mit ihrem im September erschienenen Album Ohms und der Neuauflage von White Pony inklusive Remix-Album Black Stallion hätten die Deftones die Bühnen dieser Welt unsicher machen können. Da dies aus bekannten Gründen nicht möglich ist, steigt die Vorfreude auf die Zeit nach dem Virus und meinem ersten Livekonzert dieser genialen Band ins Unermessliche.

Die weiteren Ausgaben der kleinen Serie:

Lest hier auch die Januar-Ausgabe unserer „On Tour“ Today With Music From The Past Reihe: Hammerfall: 20 Jahre Renegade

Hier kommt ihr zur Februar-Ausgabe unserer „On Tour“ Today With Music From The Past Reihe: Destruction: 20 Jahre All Hell Breaks Loose

Klick hier für die März-Ausgabe unserer „On Tour“ Today With Music From The Past Reihe: Papa Roach: 20 Jahre Infest

In der April-Ausgabe gab es in der „On Tour“ Today With Music From The Past Reihe: The Offspring: 20 Jahre Conspiracy Of One

Schaut euch auch die Mai-Ausgabe der „On Tour“ Today With Music From The Past Reihe an: Iron Maiden: 20 Jahre Brave New World

In der zweiten Mai-Ausgabe wurden Stratovarius mit „Could Be On Tour Today With Music From The Past” und Infinite vorgestellt

Für die Juni-Ausgabe, hatten wir uns Virgin Steele mit „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past und The House Of Atreus Act II  vorgenommen.

Hier kommt ihr zur ersten Juli-Ausgabe unserer „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past Reihe: Limp Bizkit: 20 Jahre Chocolate Starfish And The Hot Dog Flavored Water

Die zweite Juli-Ausgabe von „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past beschäftigt sich mit Linkin Park und Hybrid Theory

In der August-Ausgabe gab es eine Doppelpack in einer Story von „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past, es geht um zwei Bands aus Göteborg, Haven von Dark Tranquillity und Clayman von In Flames

In der Oktober-Ausgabe von „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past geht es um die Mitbegründer des Progressive Metal, Fates Warning und ihr Werk Disconnected

In der ersten November-Ausgabe von „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past widmen wir uns den Dänen Pretty Maids und ihrem Album Carpe Diem.

Hier kommt ihr zur zweiten November-Ausgabe unserer „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past Reihe: Rhapsody: 20 Jahre Dawn Of Victory

Im dritten Teil unserer November-Ausgabe unserer „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past Reihe wird das Album Verlierer Sehen Anders Aus der Düsseldorfer Punkrocker Broilers beleuchtet.

Hier kommt ihr zur ersten Dezember-Ausgabe unserer „Could Be On Tour“ Today With Music From The Past Reihe: Edguy: 20 Jahre The Savage Poetry