Time For Metal Zeitreise – Tiamat – Wildhoney (1994)

Klassiker von damals neu gehört - mit René W. und Andreas B.

In dieser Kolumne plaudern Redakteur Andreas B. und Chefredakteur René W. zweimal im Monat über einen Klassiker der Metal- und Hardrock-Geschichte. Der Fokus liegt dabei nicht auf Bands aus der zweiten Reihe oder auf vergessenen Underground-Perlen.

Die Time For Metal Zeitreise ist die Bühne für die einflussreichen und großen Bands unserer Szene. Hier wird über deren Alben gefachsimpelt, sich erinnert, diskutiert und manchmal auch gestritten. Von Fans für Fans.

Lehnt euch gemütlich zurück und erinnert euch mit uns an die alten Zeiten und die großen Momente, die uns alle so sehr geprägt haben.

Heute: TiamatWildhoney aus dem Jahr 1994.

Andreas B.:
02.06.1995. Eindhoven. Dynamo Open Air. Tent Stage auf dem Zeltplatz. Der erste Tag des Festivals neigt sich dem Ende zu und erst ab morgen hat die Main Stage geöffnet. Der heutige Abend ist quasi ein Warm-up für das Dynamo 1995, das dann später als größtes Festival in all den Jahren gelten wird. Wie auch immer. Der Hauptgrund, sich in das völlig überfüllte Zelt zu quetschen, war damals eine meiner Lieblingsbands: Tiamat. Die Schweden hatten vor Kurzem ihr abgedrehtes Epos Wildhoney veröffentlicht.

Bekannt wurde es durch den Hit The Ar, der damals in meiner Stammkneipe – und zweiten Heimat – Sam’s Hard’n Heavy in Aschaffenburg hoch- und runtergespielt wurde. Was für ein Song. Dieses Düstere war ja damals, Anfang der Neunziger, stark angesagt. Paradise Lost, Amorphis, My Dying Bride, Moonspell, Sentenced, The Gathering, Lake Of Tears oder eben auch Tiamat veröffentlichen in dieser Zeit ihre frühen Alben und sorgen dafür, dass Nebelschwaden und gedämpftes Licht Einzug in den Metal halten. Viele dieser Combos hatten sich auf ihren Demos und Debüts noch in der rumpeligen Death Metal Matschpampe gesuhlt, nur um dann irgendwann die Kurve in Richtung Gothic/Doom/Dark Metal zu kriegen. Was auch meistens die goldrichtige Entscheidung war.

So auch Tiamat. Sumerian Cry von 1990 rumpelt noch ziemlich böse durch den Vorgarten, das 91er The Astral Sleep bietet schon etwas spannendere Songstrukturen und bietet mit Mountain Of Doom und Dead Boys Choir schon sehr atmosphärische und ruhige Songs. Tja, und dann kam Clouds ein Jahr später auf den Markt. Im Grunde schon der metallische kleine Bruder der Wildhoney. In A Dream kennt man vielleicht, genau wie den Hit der Scheibe: The Sleeping Beauty. Trotzdem ist das alles noch irgendwie etwas sperrig.

Das ändert sich dann schlagartig zwei Jahre später.
Das mit Vogelgezwitscher, Froschgequake und Grillengezirpe hinterlegte, akustische Intro Wildhoney passt perfekt zum etwas skurrilen Albumcover.
Whatever That Hurts startet wuchtig, getragen und episch-langsam in die knappe Dreiviertelstunde.
Johan Edlund flüstert sich mystisch durch die Strophe, nur um im getragenen Refrain aus tiefster Brust zu growlen.

Honey tea, psilocybe larvae
Honeymoon, silver spoon
Psilocybe tea

Wat? Hä? Digger, was ist los mit dir? Generell atmet das ganze Album irgendwie ganz viel bewusstseinsverändernde Substanzen, die auf allen möglichen Wegen ins songwriterische Hirnzentrum eingedrungen sind.

The Ar, zweiter Song des Albums, ist schon der rockigste der ganzen Platte.

The five pointed grey star carven
The sign of the Aryan Race
The five pointed grey star carven
On the forehand of an evil face

Hatte damals durch diese Textzeilen etwas Staub aufgewirbelt; wurde aber durch entsprechende Interviews und etwas Lektüre schnell entkräftet.

Nach diesem Hit folgt das zweite Soundgedöns der Platte. 25th Floor ist nach Wildhoney ein weiterer Non-Music Track. Skipalarm.
Dann aber Gaia.

Ganz viel Pink Floyd, Kitsch und Keyboards. Irgendwie sehr „groß“, allerdings 0 % Rock ’n‘ Roll. Aufgrund der Lyrics auch nicht gerade zum Kuscheln geeignet. Zumindest nicht, wenn man zuhört.

So, mir wird das gerade etwas zu seicht, daher gebe ich den Redestein mal weiter nach Jever.

René W.:
Danke für deine Einleitung. Mit Anfang 20 wuchs das Interesse in mir an progressiveren und melancholischeren Melodien, die man im Heavy Metal oft vergebens sucht. Ein Grund ganz sicher für die vielen Stunden, die ich mit den Jungs von Nailed To Obscurity verbracht habe. Dort liefen immer gerne Amorphis, Paradise Lost, My Dying Bride oder die alten Anathema Schinken. Um vertrauter mit dem Material zu werden, sollte meine Sammlung aufgestockt werden und schwups, war es passiert. Bei Ebay eine Box mit ca. 15 gebrauchten CDs des Genres gekauft und es waren einige Leckerbissen dabei. Zwei Überraschungsbands, die mir gar nicht vom Hören, aber vom Namen geläufig waren, lagen mit im Paket. Einmal Sentenced, die immer noch einen hohen Stellenwert bei mir haben, aber leider nie live zelebriert werden konnten. Die andere Truppe: das heutige Thema Tiamat. So gerieten Prey und Wildhoney in meinen Besitz. Mein absolutes Band Highlight ist Prey, dem Wildhoney nicht ganz die Stirn bieten kann. Auf dem Weg zum Nailed To Obscurtiy Gig nach Emden also Wildhoney eingelegt, drangen erstmals das Intro und Whatever That Hurts in meine Ohren. Der erste Gedanke war wohl „Fuck ist das lahm, wo bleiben härtere Riffs?“ Wer düsteren Death Metal erwartet und Gothic Metal bekommt, braucht ein paar Minuten, um klarzukommen. Die Vocals von Johan Edlund machten es zunächst nicht besser. Whatever That Hurts tröpfelte dahin und die Finger wanderten langsam zum Auswurf. Ich weiß nicht mehr, warum das Handy klingelte, aber es hat Tiamat an dem Nachmittag gerettet. Nach dem kurzen Gespräch lief The Ar an. Wow, diese Atmosphäre, schön mystisch wie Moonspell Anfänge und gesanglich weiter zu Lake Of Tears von denen das Livealbum By The Black Sea nur zu empfehlen ist und alle grandiosen Hits ausspuckt. The Ar konnte positive Akzente setzen, grundsätzlich war mir es jedoch damals noch zu ruhig – das sieht heute ganz anders aus. Wildhoney hat viele gelungene wie verborgene Elemente, die man nur lieben kann.

Bis es zum ersten Livekontakt kam, dauerte es jedoch bis 2013. Tiamat zockten auf dem Metal Hammer Paradise zusammen mit My Dying Bride. Zwei absolut großartige Live-Acts. Wer das Genre liebt, muss sie erlebt haben. Die erste Auflage der Veranstaltung war noch nicht ausverkauft und man hatte recht viel Platz vor den Bühnen, ohne Probleme konnte man in die ersten Reihen vordringen. Wer die Bühnen kennt, Tiamat spielten in der Kneipe oben, die Stage ist sehr niedrig und Auge in Auge mit Johan Edlund zu stehen, bringt selbst beim fokussierten Ablichten der Band Dauergänsehaut auf die Arme.

Bei 25th Floor bin ich direkt bei dir Andi. Warum auch immer die Klänge dort platziert wurden, für einen guten Fluss sorgt es definitiv nicht, da überspringe ich selbst heute noch. Über Gaia brauchen wir nicht sprechen: Der stärkste Hit der Platte vielleicht sogar in der gesamten Karriere der Schweden. Wie schon gesagt, Prey steht bei mir ganz oben und beinhaltet Kompositionen, die mithalten können. Die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und dann der ständige Wunsch, die Dämonen abzuschütteln – einfach einmalig. Hier harmoniert alles. Stimme, die ineinandergreifenden Melodien und die emotionalen Tiefen. 2014 auf dem ROCKHARZ dann die zweite Tuchfühlung auf der Bühne. Cowboyhut und die dunkle Sonnenbrille in Kombination mit der hellen Gitarre wirkten etwas skurril, machten aber den letzten Track Gaia und auch Vote For Love, den ich ebenfalls sehr ergreifend finde, nicht schlechter. Welche Platten stehen bei dir auf dem Tiamat Thron, wenn ich dir mal wieder die Klinge an den Hals legen darf, um eine Antwort zu erpressen.

Andreas B.:
In der Tat muss man sich auf der Wildhoney erst mal an das Laaaaaangsame gewöhnen.
Auf der anderen Seite ist das aber auch ganz passend, wenn man mal etwas relaxen möchte und sein Hirn mit Geballer verschonen will.
Ich habe Tiamat nach den ersten Sekunden der Skeleton Skeletron nicht weiter verfolgt. Mir wurde das dann eindeutig zu poppig. Den Weg konnte ich nicht mitgehen. In diesem Moment läuft die Scheibe auch wieder bei mir und ich kann dem immer noch nicht viel abgewinnen.
Egal, zurück zur Wildhoney.

Gaia hatten wir schon, also auf zum Visionaire.
Das ist übrigens mein persönliches Highlight auf dem Album, sodass ich mir damals auch gleich die dazu gehörende EP kaufte. Der Song ist auf dieser in einer etwas längeren Version zu hören. Auf der 2007er Re-Issue von Wildhoney kannst du die Version dann auch finden.
Visionaire ist – natürlich – wieder ultralangsam, dafür aber sehr wuchtig und mächtig. Ich mag die unverzerrte Gitarre im Hintergrund und das klassische Metalsolo.

Nun, danach kann ich die Platte auch ausmachen. Die folgenden Stücke hauen mich alle nicht vom Hocker und gehen mir sogar ziemlich auf die Nerven.
Das fängt an beim völlig sinnfreien Kaleidoscope (kurzes Akustikgeklimper mit Regensound), steigert sich beim Popsong Do You Dream Of Me ins Unerträgliche und schießt den Vogel beim Soundgefiepe Planets dann endgültig ab. Wie kann man so viel Zeit auf einer CD mit Bullshit verplempern?

Ach ja, A Pocket Size Sun haben wir ja auch noch. Acht Minuten akustisches, teils abgedrehtes Wirrwarr mit Sprechgesang.
Kann ich mir nicht geben.

Jo… das war es dann auch mit der Wildhoney. Im Nachhinein betrachtet ein völlig überbewertetes Album einer überbewerteten Band. Die Scheibe ist irgendwie richtig schlecht gealtert. Whatever That Hurts, The Ar, Visionaire und von mir aus noch Gaia sind zu wenig, um dem Album den Stempel „essenziell“ aufzudrücken.

Mehr kann ich zu der Platte dann auch irgendwie nicht mehr sagen. Wahrscheinlich habe ich sie für diese Zeitreise auch das letzte Mal gehört.

Wie sieht es bei dir aus? Killer oder Filler?

René W.:
Harte Worte, die du in unserer Zeitreise derart drastisch noch nicht angeschlagen hast. Killer oder Filler? Da hast du mich direkt an den Eiern. Die Best-of Commandments von Tiamat aus dem Jahre 2007 ist grandios, damit möchte ich auf deine Frage antworten. Diese Scheibe beinhaltet alles, was die Schweden groß macht und hat alles das weggelassen, was du als störend empfindest: Die ganzen vielen mittelmäßigen oder wirr aufgenommenen Stücke. Wenn bei mir Tiamat läuft, dann diese Scheibe. Ähnlich habe ich es bei Lake Of Tears, da dreht das letzte Livealbum am häufigsten, weil alle Hits gebündelt wurden. Also auf einer Scheibe wie Wildhoney definitiv zu viele Filler. Ob die Truppe grundsätzlich überbewertet ist, darf man in der Form, wie du es gemacht hast, hinterfragen, die Berechtigung ist da und ich verweise noch mal auf die Best-of. Schade bleibt die Tatsache, dass bislang kein sehr gutes Album aus den Händen von Johan Edlund entsprang. Die Gründe dafür dürften heute nicht geklärt werden können.

Nach Visionaire, der, wie du schon sagst, sehr fett produziert wurde und schwermütig dicke Fußabdrücke im Genre Sumpf zurücklässt, kommt danach leider nicht mehr viel. Kaleidoscope geht als Intro für Do You Dream Of Me noch gut herunter. Dazu muss erwähnt werden, dass mir gute Intros auch zwischen den Songs mitten im Album immer gut gefallen. Kaleidoscope hat da schon Klasse und bringt die Tiefe, um das Finale einzuläuten. Do You Dream Of Me geht wahrlich sehr weit vom Metal weg und lebt vom Spagat zum poppigen Gothic, die Stimme von Johan bringt da noch mehr Dunkelheit herein. Das ist das grundsätzliche Problem von Tiamat, dass man der Musik dann doch schnell überdrüssig werden kann. Nach vielen Durchläufen funktionieren irgendwann auch die größten Hits nur noch bedingt, weil einem was fehlt. Bis heute kann man den Skandinaviern live gar nichts Negatives nachsagen. Planets und A Pocket Size Sun drehen völlig über. Klingt hart, aber spätestens jetzt wurde doch nur noch Zeit geschunden, um die Platte um elf Minuten zu verlängern. Nach Gaia ist die ganz große Luft raus, damit meine Gedanken nicht auch noch immer wieder die gleiche Leier hier zu Papier bringen.

Im September wird es gleich drei Zeitreisen geben, die alle aus verschiedensten Genres stammen, aber allesamt aus unserer Republik kommen.

Euch gefällt unsere Time For Metal Zeitreise? Dann schaut euch auch gerne die anderen Folgen an:

Time For Metal Zeitreise – Iron Maiden – Killers (1981)

Time For Metal Zeitreise – Metallica – Metallica (1991)

Time For Metal Zeitreise – Helloween – Keeper Of The Seven Keys Part I (1987)

Time For Metal Zeitreise – Helloween – Keeper Of The Seven Keys Part II (1988)

Time For Metal Zeitreise – Grave Digger – Tunes Of War (1996)

Time For Metal Zeitreise – Sodom – Agent Orange (1989)

Time For Metal Zeitreise – Manowar – Kings Of Metal (1988)

Time For Metal Zeitreise – Blind Guardian – Tales From The Twilight World (1990)

Time For Metal Zeitreise – Slayer – Reign In Blood (1986)

Time For Metal Zeitreise – Dimmu Borgir – Enthrone Darkness Triumphant (1997)

Time For Metal Zeitreise – Warlock – Triumph And Agony (1987)

Time For Metal Zeitreise – Scorpions– Crazy World (1990)

Time For Metal Zeitreise – Sepultura – Arise (1991)